
„Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei“, BWV 46, 1. August 1723.
Die Meinungen der Fachwelt über die Frage, was ein Corno da Tirarsi und eine Tromba da Tirarsi waren und wie sie aussahen, werden wohl immer auseinandergehen. Es wird immer Raum für mehr oder weniger gut begründete Hypothesen geben – bis hin zu wilden Spekulationen, z.B. dass „Clarino“ der Name eines Stadtfeiffers gewesen sei, oder dass „Corn.“, „Cornio“ und ähnliche (seinerzeit sehr modische) Namen für Horn angeblich einen Cornetto oder Cornettino (Zink) meinten, was eindeutig und mit guten Gründen sachlich zurückgewiesen werden kann.
Ich plädiere ansonsten für Gelassenheit in der Diskussion. Wir werden es nie genau wissen – sofern nicht noch ein Wunder geschieht und eine zweifelsfreie zeitgenössische Abbildung, eine eindeutige Beschreibung oder gar ein originales Tirarsi-Instrument auftauchen.
Vor diesem Hintergrund können wir uns mit Neugierde den nachfolgenden Thesen widmen.
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„Auf Grund der Rohrlänge ist beim Zughorn nur an einen Doppelzug zu denken“ (Herbert Heyde: „Instrumentenkundliches über Horn und Trompete bei Johann Sebastian Bach“ in Johann Sebastian Bachs historischer Ort , Bach Studien 10, Breitkopf und Härtel Musikverlag, Wiesbaden, 1991, S. 261).
„… mit einer Trompete wolte imitieret haben /… / … und wo sich … nach jetziger Invention eingerichtet ist / daß sie sich nach Art der Trombon ziehen lässt…“ (Johann Kuhnau: „Der musicalische Quack-Salber„, Dresden, 1700, S.82 f.).
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Olivier Picon, Basel, konkretisierte 2010 – profitierend vom Austausch mit Musikern, Instrumentenkundlern, Instrumentenbauern und Musikwissenschaftlern – in seiner Diplomarbeit „THE CORNO DA TIRARSI“ die bereits vorher von anderen Fachleuten aufgeworfene Überlegung, dass es sich bei den Tirarsi-Instrumenten vermutlich um die simple wie geniale Übertragung der Posaunen-Doppelzugtechnik auf das Horn (und Trompete) handelte.
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Davon ausgehend bieten sich folgende 17 Thesen an:
1. „Corno“ und „Tromba“ sind die gängigsten Bezeichnungen in den Partituren und Stimmen von Bachs Leipziger Kantaten für Horn und Trompete. Der Begriff „Tirarsi“ ist abgeleitet von „tirare“ = „ziehen“; „da Tirarsi“ italienisch = „zum ziehen“. Zugleich im Genitiv formuliert bedeutet „da Tirarsi“ sinngemäß „das Zugteil von…“ oder „Trompete mit Zugteil“ bzw. „Horn mit Zugteil“.
2. Original und ausnahmslos von Bach persönlich geschrieben sind sechs originale Tirarsi-Bezeichnungen. Konkret: eine Stimme (BWV 46, Nr.1) ist von Bach mit „Tromba. o Corno da Tirarsi“ beschriftet, eine weitere Stimme (BWV 162) wurde komplett von Bach geschrieben und mit „Corno. da Tirarsi“ benannt; außerdem findet sich von seiner Hand der Begriff „Tromba da Tirarsi“ in der Partitur von BWV 77/1. In zwei vom Kopisten Johann Andreas Kuhnau geschrieben Tromba-Stimmen (BWV Nr. 5 und 20) sowie in einer Corno-Stimme (BWV 67), schrieb Bach persönlich hinter die jeweiligen Instrumentennamen „Corno“ bzw. „Tromba“ den zusätzlichen Begriff „da tirarsi“.
3. Alle sechs von Bach notierten Tirarsi-Stimmen verfügen über zusätzliche naturtonfremde Töne, sind (mit wenigen Ausnahmen) in den Chorälen klingend (nicht transponierend) notiert, verdoppeln dort den Sopran und treten, mit einer Ausnahme, immer als Soloinstrument in Erscheinung – oder sie sind in den Chören und Arien als obligates Soloinstrument stimmend (transponierend) notiert und enthalten gelegentlich ebenfalls naturtonfremde Töne.
4. Abgesehen von den von Bach mit „da Tirarsi“ beglaubigten Stimmen gibt eine beachtlich große Gruppe weiterer solistischer Stimmen für Tromba und Corno, die den unter 3. genannten Tirarsi-Kriterien entsprechen, von Bach aber nicht mit dem Zusatz „da Tirarsi“ markiert wurden (bzw. von Bach hinter den vom Kopisten notierten Instrumentennamen geradezu „gequetscht“ wurden – siehe BWV 5, 20 und 67). Sie sind ebefalls um zusätzliche, naturtonfremde Töne erweitert und enthalten teilweise spektakuläre Solo-Passagen (z.B. BWV 24, 70, 95, 105 oder 109).
5. In einigen Kataten mit zwei oder drei Corno- oder Tromba-Stimmen (BWV 40, 69a, 73, 74, 83, 110 und ev. in 119) gibt es ergänzend solistische Tirari-Partien in den Arien und Chorälen, die denen die unter 3. genannten Kriterien greifen – singulär ist nur BWV 43/11 mit drei Trompeten, die in diesem Choral naturtonfremde Töne zu spielen haben.
6. Die Zahl der in den originalen Aufführungsmaterialien notierten zusätzlichen Töne ist enorm: a, h, cis1, d1, dis1, f1, fis1, gis1, a1, h1, cis2, dis2/es2 und gis2, wodurch folgender, um ca. 50% erweiterte Tonvorrat zur Verfügung steht: a, h, c1, cis1, d1, dis1, f1, fis1, g1, gis1, a1, h1, b1, c2, cis2, d2, dis2/es2, e2, f2, fis2, g2, gis2, a2, b2, h2, c3 usw. (statt der beschränkten Naturtonskala c1, e1, g1, b1, c1, d2, e2, f/fis2 unsauber, g2, a2 und b2 beide zu tief, h2, c3 usw.).
7. Nach Auswertung der originalen Aufführungsmaterialen entlang der wöchentlichen Chronologie, vor allem unter Berücksichtigung der menschlichen Anatomie (Armlänge begrenzt die Auszugslänge) sowie anhand der gewonnenen Praxis-Erfahrungen, sind die zusätzlichen Töne vor allem der unteren Lage durch die Kombination des Corno-Instrumentes mit einem zusätzlichen Adapter, einem kurzen posaunenartigen Doppelzug hervorgebracht worden. Es scheint nicht logisch zu sein, dass Reiche für die Tromba-Partien, die naturtonfremde Töne enthalten, auf den umständlicheren Einzelzug zurückgriff – die Nutzung des Doppelzuges auch auf der Tromba ist zu vermuten: denn wenn dieses „Werkzeug“ einmal im Gebrauch war, dann wird die Nutzung dieses „Werkzeugs“ schlicht wesentlich bequemer gewesen sein.
8. Durch Ausziehen des Doppelzuges und die Nutzung der Möglichkeiten der Einschubtöne, konnten der begrenzten Naturtonskale auf dem Corno (und der Tromba) die von Bach geforderten zusätzlichen Töne (sowie die zu korrigierenden unreinen Naturtöne Nr. 7, 11, 13 und 14) ausdrucksstark, klanglich einwandfrei und virtuos spielbar hinzugefügt bzw. genutzt werden. Ausschließlich mit Hilfe der Treibtechnik (siehe These 15), der Stopftechnik oder einem doppelt so langem Einzelzug sind die mutmaßlichen Tirarsi-Stimmen auf einem Corno – insbesondere die besonders spektakulären Partien in BWV 24, 46, 95, 105, 109 und 162 – nach unseren Beobachtungen nicht spielbar.
9. Gottfried Reiche war als Leipziger Stadtpfeiffer-Senior mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit derjenige Stadtpfeiffer, der seine singulären Tirarsi-Instrumente nach der leider weitestgehend im Dunkeln liegenden Kuhnau-Ära (es sind leider zu wenige Werke des offenbar gewaltigen Opus´von Bachs Amtsvorgänger erhalten) Johann Sebastian Bach nahebrachte und ihn zu einzigartiger Musik inspirierte. Dafür spricht, dass zwei von Bach für Leipzig umgearbeite frühere Kantaten jeweils eine gänzlich neue solistische Tirarsi-Stimme erhielten (BWV 162 und 185). Dafür spricht weiterhin, dass nach Reiches Tod (Oktober 1734) die typischerweise solistischen Tirarsi-Stimmen bei Wiederaufführungen unter Bachs Leitung umbesetzt, gestrichen oder von Bach umarrangiert wurden (nachgewiesen in BWV 8, 10, 27, 73, 89, 96 und 137). Alle weiteren Kantaten, die nach 1734 entstanden, enthalten jedenfalls keine besonderen naturtonfremde Töne! Es ist ein starkes Indiz, dass die einzige Kantate nach Reiches Tod mit obligater Solopartie (BWV 14, vom 30.1.1735), sowie alle anderen Bach-Kantaten mit mehreren Trompeten oder Hörnern frei von besonderen naturtonfremden Tönen sind: Reiche hatte offenbar keine Nachfolger, die seine virtuose und bewährte Tirarsi-Kunst weiterführten, die Bach ganz offensichtlich außerordentlich schätze; sie geriet allmählich in Vergessenheit und Reiches Instrumente gingen verloren.
10. Der Posaunenzug, vor 1450 erfunden – er war bekanntlich die Weiterentwicklung der mittelalterlichen Zugtrompete (dem „einbeinigen älteren Verwandten der Posaune“; aus aus einem Einzelzug wurde ein Doppelzug) – ist wegen seiner durchschlagenden Neuerung nur noch mit der Erfindung der Ventile um 1815 vergleichbar. Die Blechblasinstrumente gewannen dadurch jeweils mit einem Schlag einen größeren Tonumfang und konnten virtuoser und bequem gespielt werden (es ist interessant, dass die bereits lange etablierte Doppelzug-Technik der Posaune von anderen Komponisten und Spielern für die Trompete und das Horn scheinbar NICHT genutzt wurde – oder existieren davon lediglich keine Quellen mehr?).
11. Reiches Innovation wurde durch die Zusammenarbeit mit Bach zu einem der Gipfelpunkte in der Geschichte der Suche nach der Chromatik von Trompete und Horn. Ohne Bachs unvergleichliche Kantaten wäre über Reiches Tirarsi-Instrumente vermutlich niemals derartig intensiv spekuliert und nachgedacht worden. Die vielen anderen Cromatisierungsversuche – z.B. die gewöhnliche Zugtrompete der Türmer (siehe u.a. das „Turner Horn“ in Sebastian Virdung, Musica getutscht, 1511); die spannende Geschichte der englischen Zugtrompeten; die Trompetenpartien von Pavel Josef Vejvanovský (um 1633 – 1693); das Auftreten der Stopf- und Inventionstrompeten; die Klappentrompete (Zusammenarbeit von Joseph Haydn und Anton Weidinger um 1795); die Trompeten mit Löchern nach 1785 und letztlich die Erfindung der Ventile im frühen 19. Jahrhundert – müssen bei unserer Betrachtung mitgedacht werden. Bachs bzw. Reiches Leipziger Tirarsi-Partien bedeuten in diesen Zusammenhängen einen wesentlichen Höhepunkt eines allgemeinen Chromatisierungs-Trends vor Erfindung der Ventile.
12. Weltweit gibt es heutezutage nur ganz wenige Spezialisten, die die Tirarsi-Kunst auf dem Corno (und der Tromba) beherrschen. Es geht im Besonderen um die Solostimmen für „Tromba“, „Corno“ und „Clarino“ in den anspruchvollen Arien und Chören der Kataten BWV 5, 16, 20, 23, 24, 46, 50 (?), 67, 70, 77, 95, 103, 105, 109, 126, 136 oder 162, aber auch „nur“ um viele den Sopran verdoppelnden Choräle, wie in den Kantaten BWV 10, 12, 20, 23, 24, 46, 48, 62, 65, 68, 70, 73, 75, 76, 107, 115, 124, 125, 147, 167, 178 oder 185.
13. Diese Tirarsi-Stimmen wurden von Bach ausdrücklich nicht für Cornetto oder Cornettino konzipiert. Für Bach war die Besetzungsangabe offenbar während Reiches Lebenszeit ausdrücklich keine Geschmacksfrage: ob ein Horn (Corno), Trompete (Tromba), Zink (Cornetto) oder Posaune (Trombona) verlangt und entsprechend genutzt wurden, war bis zu Reiches Tod 1734 kein Zufall! Die originalen Aufführungsmaterialien unterscheiden bis 1734 deutlich zwischen diesen vier Instrumenten. Mehrere eindeutige Instrumentenwechsel, die sich auf einzelnen Stimmblättern finden (u.a. BWV 3, 14, 68, 128) sind eindeutige Belege für Bachs Instrumentierungsabsichten, solange Gottfried Reiche zur Verfügung stand. Ein schöner Beweis dafür ist seine eigenhändige Korrektur in BWV 116: den vom Kopisten notierten Instrumentennamen „Tromba“ strich Bach während der Revision der Stimme zugunsten von „Corno“. Erst nach Reiches Tod wurde J.S. Bach notgedrungen flexibler und arrangierte für Wiederaufführungen die Tirarsi-Partien um (siehe These Nr. 9).
14. Ähnlich der vor einigen Jahrzehnten wiederentdeckten Oboe da Caccia, die in Leipzig um 1722 von Johann Eichentopf erfunden wurde, kann mit rekonstruierten Tirarsi-Instrumenten das gesamte Repertoire von Tromba und Corno – ebenbürtig zu allen anderen Blasinstrumenten der Zeit (Föten, Oboen, Zinken, Posaunen usw.) – in einwandfreier Intonation, ausdrucksstark, mit ausgewogener Klangbalance, bequem und virtuos dargestellt werden.
15. Ein Gedanke zum sogenannten „Treiben“ (gemeint ist vor allem das „Fallenlassen“ aber auch „Hochtreiben“ der schiefen Naturtöne Nr. 7, 11, 13 und 14 ohne technische Hilfsmittel): es spricht für sich, dass 99% aller heutigen Naturtrompeter in Aufführungen und Aufnahmen diese Technik nicht nutzen. Für lange klingende naturtonfremde Noten in den Cantus firmi nutzen deshalb einige wenige der heutigen Praktiker in der tiefen Lage die einzügige Zugtrompete, mit der sie aber die wichtigsten virtuosen Tirarsi-Partien für Tromba nicht darstellen – siehe These 6. Es ist bemerkenswert, dass aus pragmatischen Gründen fast alle heutigen Naturtrompeter für diese tiefen Partien, wenn sie sich darauf einlassen, einen kurzen Doppelzug nutzen – ohne zu ahnen, bzw. sich Gedanken darüber machen, dass sie damit womöglich der originalen Lösung von Gottfried Reiche folgen!
Ein weiterer Gedanke zum Treiben: eine Verdopplung der Rohrlänge zur Anwendung der Treibtechnik auf einem um eine Oktave tieferen Horn (Basso) zur Bewältigung wichtiger Tirarsi-Partien (BWV 46, 67, 105, 109, 162) führte nicht zu überzeugenden Ergebnissen. Das Treiben der unreinen Naturtöne wird in der hohen Clarin-Lage in Stücken ohne besondere zusätzliche Töne sicherlich seinerzeit die akzeptierte Praxis gewesen sein – heutzutage, im Aufnahme-Zeitalter mit seinen erhöhten Qualitäts- und Perfektionsansprüchen, ist diese Technik aber fast nicht im Gebrauch.
Gottfried Reiche und die besten seiner damaligen Kollegen haben die „normalen“ Tromba-Partien (ohne naturtonfremde Töne) sicherlich mehr oder weniger perfekt gestaltet. Reiche aber hat, folgten wir den Tirarsi-Thesen, durch Kombination der Treibtechnik mit seiner einzigartigen Tirarsi-Technik die Grenzen des Spielbaren verschoben.
16. Johann Kuhnau (1660 – 1722), Bachs Amtsvorgänger in Leipzig, gibt einen interessanten Hinweis, der mehr Beachtung verdient: „… mit einer Trompete wolte imitieret haben /… / … und wo sich … nach jetziger Invention eingerichtet ist / daß sie sich nach Art der Trombon ziehen lässt…“ (siehe Johann Kuhnau: „Der musicalische Quack-Salber“, Dresden, 1700, S.82 f.). Bedenkt man, dass von den geschätzt 2000 geistlichen Leipziger Werken Kuhnaus lediglich ca. 30 „Kirchenstücke“ überliefert sind, in ihnen aber immerhin einmal eine „Tromba da Tirarsi“ explizit genannt wird und in der Kantate „Lobet, ihr Himmel, den Herren“, tirarsi-typische naturtonfremde Töne verlangt werden, kann nicht gesagt werden, dass die Tirarsi-Partien erst in Bachs Leipziger Werken, quasi wie „aus dem Nichts“ auftauchen. Gottfried Reiche, schon vor Kuhnaus Übernahme des Thomaskantorats als Ratsmusiker in Leipzig tätig und hoch geachtet, hatte demnach vermutlich ev. bereits vor Kuhnaus Dienstantritt seine Tirarsi-Kunst entwickelt.
17. Ein künftiger Forschungsansatz könnte es also sein, in den vielen, bislang noch verschollenen Werken (nach Ansicht vom Chef des Bacharchivs, Prof. Dr. Michael Maul, bis zu 2000 „Kirchenstücke“) von Johann Kuhnau vielleicht noch weitere Tirarsi-Partien zu identifizieren. Dass in osteuropäischen Archiven – Stichwort „Beutekunst“ – derartige Manuskripte dereinst auftauchen könnten, ist nicht ausgeschlossen: bereits Bachs Probekantate (Erstfassung von BWV 23) am 7.2.1723 enthielt eine „Clarino“-Stimme, die den Sopran verdoppelt und (spektakuläre) naturtonfremde Töne enthält (siehe unter dem Menüpunkt „Indizien“), die aber erst 1999 von Christoph Wolff in Kiew entdeckt wurde.
Die spannende Geschichte der Tirarsi-Instrumente ist also noch längst nicht zu Ende geschrieben.
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Und vielleicht kann die Tirarsi-Kunst auch nicht als die einzige Technik in Leipzig angesehen werden, die mithalf die schiefen Töne der Naturtonreihe zu verbessern und das Spiel der von Bach geforderten zusätzlichen Töne von Horn und Trompete zu ermöglichen.
Möglicherweise bewirkte ein Mix mehrerer Techniken, also das gleichzeitige Nutzen – vielleicht sogar von Grifflöchern? (siehe Altenburg, J. E. Versuch einer Anleitung zur heroisch-musikalischen Trompet- und Pauker-Kunst. Michaelstein/Blankenburg: Friedrich Hofmeister Musikverlag, 1993, s. 112: „… vielleicht wären noch mehr Töne herauszubringen, wenn man, wie auf anderen Blasinstrumenten, unten an einer Seite der Trompete eine kleine Oeffnung und über derselben eine Klappe anbrächte. …. Ich selbst habe ehedem, bey dem Hoftrompeter Schwanitz in Weimar, eine Trompete gesehen, auf welcher man, vermittelst eines kleinen ledernen Schiebers über der gedachten Oeffnung eingestrichene a und h vollkommen rein angeben konnte. Nun fehlte nur noch das d und f, so hätte man auch in der eingestrichenen Oktave die ganze diatonische Tonleiter. Und dies wäre doch unstreitig ein sehr beträchtlicher Gewinn für die Musik….“) – , das Treiben gewisser Passagen (quasi ein „Darüberhinwegspielen“ – z.B. in einigen speziellen Takten in BWV 67/1 oder BWV 46/3) und die gleichzeitige Nutzung der Tirarsi-Technik in Kombination mit hohen grundsätzlichen bläserischen Fähigkeiten die außerordentlich nachhaltige künstlerische Wirkung und Faszination, die seit mittlerweile 300 Jahren ungebrochen anhält.
Der wichtigste Faktor – neben Reiches herausragenden bläserischen Fähigkeiten – war sicherlich Bachs Kompositionsgenie und Neuerungsgeist, wodurch die Möglichkeiten der Blechbasinstrumente maximal genutzt und ausdehnt wurden.
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am 20.August 2021 der Bachstiftung St. Gallen (Schweiz).

ein zur Vertiefung max. 60 cm ausgezogener Doppelzug (links) und der zur Vertiefung um mehr als zwei Halbtöne um ca. einen Meter ausgezogene Einfachzug der „gemeinen Zugtrompete“ (rechts).
Die Kombination des Hornkorpus´ + Doppelzug ist mein Rekonstruktionsversuch eines „Corno da Tirarsi“, wodurch mindestens zwei zusätzliche Halbtöne jedem Naturton vertieft werden können – die Armlänge reicht dafür bequem aus.
Mit einem Einzelzug ist es dagegen auf einem Horn unmöglich, die nötige Vertiefung um ca. zweieinhalb Halbtöne zu realsieren: das Horn kann nicht gemeinsam mit dem Einzelzug gehalten und zugleich ausgezogen und somit als Zuginstrument gespielt werden – die Armlänge ist dafür definitiv nicht ausreichend und auch die Nutzung der Einschubtöne ist nicht bzw. lediglich stark eingeschränkt möglich. Und selbst wenn die Länge des Grundkorpus verlängert und die Zuglänge zugleich verkürzt wird, wodurch ein C- oder D-Instrument (mit starkt eingeschränktem Gebrauchsmöglichkeiten) entstehen würde, ist die Nutzung eines Einzelzuges auf Grund der begrenzten Armlänge in den besonders spektakulären Stimmen für Corno da Tirarsi (BWV 24, 46/3, 95, 105, 109 und 162) nicht realisierbar.
Zu beachten ist: es deuten alle verfügbaren Informationen und insbesondere die Werkgeschichte von BWV 116 (Bach ersetzte in der Stimme den vom Kopisten geschriebenen Namen „Tromba“ eigenhändig durch „Corno“) darauf hin, dass Corno-Partien von Johann Sebastian Bach zu Lebzeiten von Gottfried Reiche ausdrücklich für ein Corno gemeint waren – und nicht für Zugtrompete, Zink oder Posaune.

Bemerkenswert an dieser Stimme ist die Tatsache, dass die Erstaufführung dieser Kantate (wie in BWV 185) in Weimar – 1715 oder 1716 – noch ohne Corno stattfand.
Die neue Stimme „Corno. da Tirarsi“ der Leipziger Aufführung wurde mutmaßlich für Gottfried Reiche geschrieben, der offenbar jener Spieler war, für den diese speziellen Stücke von Johann Sebastian Bach „auf dem Leib“ komponiert wurden.
Clarino-Stimmen in BWV 24, 185 und 167 Ende Juni 1723 für Corno (da Tirarsi)?

Die Stimme entstammt der ersten in unserem Zusammenhang wirklich anspruchsvollen und neu komponierten Leipziger Kantate, die auf Grund der naturtonfremden Töne und Sprünge offenbar nur mit Hilfe der Tirarsi-Kunst gespielt werden konnte. Viele Indizien, besonders angesichts des Kontextes zu BWV 185 vom selben Tag sowie vor allem zu BWV 167 vom 24.6.1723 (siehe unten), sprechen dafür, dass diese Clarino-Stimmen in beiden Nummern der Kantate von Bach vermutlich für ein Corno (da Tirarsi) gedacht waren, vom Kopisten aber in den Stimmen lediglich mit „Clarino“ bezeichnet wurden.

Zu sehen sind die letzten Takte des Chores Nr. 3 in der oberen Zeile sowie der Choral Nr. 6, der ebenfalls naturtonfremde Töne enthält. Er kann – wie der Chor Nr. 3 – bequem mit einem Corno da Tirarsi gespielt werden, inkl. der „überschlagenden Haue“ im letzten Takte, welche eigentlich ein typisches Naturtonmotiv ist.

Interessant ist diese Stimme aus mehreren Gründen:
Sie ist vor allem in der mittleren und eher tieferen Lage angesiedelt, was gemeinhin nicht von einer Clarino-Stimme erwartet wird – „Clarino“ wird meistens mit „Tromba“ gleichgesetzt, was ein Irrtum ist. Der Begriff „Clarino“ meint ein Blechblasinstrument – egal ob Horn oder Trompete – dessen Töne in der oberen Lage angesiedelt sind.
Vor allem aber enthält diese Stimme lange naturtonfremde Töne: es sind vermutlich die ersten nachweisbaren Tirarsi-Töne für CORNO im Werk Johann Sebastian Bachs!
