
Kuhnau und Bach haben die Leipziger Tirarsi-Partien mit allergrößter Wahrscheinlichkeit für den Chef der Leipziger Stadtpfeiffer Gottfried Reiche (1667–1734) komponiert, mit denen sie offenbar in enger schöpferischer Zusammenarbeit verbunden waren. Reiche hat demnach beide Thomaskantoren mit den Möglichkeiten seiner einzigartigen Tirarsi-Instrumente inspiriert: in den Tirarsi-Partien konnte Reiche seine herausragende Kunst des Spiels im hohen Clarinregister beider Instrumente (Horn und Trompete) mit der Posaunenzugtechnik verbinden und somit die Nutzung des mittleren Registers dieser Instrumente ermöglicht. Ein Jahrhundert vor Erfindung der Ventile haben Kunhnau und Bach gemeinsam mit ihren überragenden Interpreten Gottfried Reiche einen einzigartigen Beitrag zur Erweiterung des Tonvorrates geleistet.
Vor allem durch die Kantaten Bachs hat Reiches Tirarsi-Kunst eine nachhaltige Wirkung bis in unsere Tage entfaltet, wodurch sie sich von Chromatisierungsversuchen anderer Trompeter (z.B. Johann Heinrich Cario in Hamburg) der damaligen Zeit unterscheidet: deren Bemühungen um die Erweiterung des arg begrenzten Tonvorrates hatten nicht das Glück, einen derartig erstklassigen Komponisten zur Verfügung zu haben, wie es Reiche es mit Bach geniessen konnte. Vor allem deshalb sind diese anderen Versuche in Vergessenheit geraten – mit Ausnahme sicherlich von Anton Weidinger, für dessen Klappentrompete später bekanntlich Joseph Hayden sein berühmtes Trompetenkonzert komponierte. Erst die Erfindung der Ventile um 1815 stellte dann den endgültigen Durchbruch dar. Fortan waren Trompete und Horn voll chromatisch nutzbar.
WIE SAH DAS CORNO DA TIRARSI AUS ?
Die von Reiche gespielte Musik ist in den Aufführungsmaterialien überliefert – das dafür verwendete Instrumentarium ist leider nicht erhalten. Es existiert keine Abbildung und auch keine Beschreibung. Unsere Rückschau ist deshalb ein bestmögliches Zusammentragen von Indizien, die zusammen ein ziemlich eindrückliches Bild ergeben, was aber nicht den Anspruch auf 100%-ige Gewissheit erheben kann.
Immerhin kann neben den Aufführungsmaterialien auf die beiden Abbildungen, die Gottfried Reiche zeigen, zurückgegriffen werden. Gewisse Rückschlüsse sind erlaubt.

Der oben zu sehende Kupferstich einer Figuralmusik in der Leipziger Thomaskirche aus dem Jahr 1710 zeigt mittig u.a. einen Hornisiten, bei dem es sich vermutlich um Gottfried Reiche handelt und der sein Horn mit dem Schallstück nach oben hält.
Meine Rekonstruktion des Corno da Tirarsi fogt diesem Instrumententyp, der tendenziell wohl überwiegend konisch konstruiert war und damit auch tendentiell hornartiger klang als die Trompeten. Ich habe mich bewußt NICHT dafür entschieden das berühmte gewundene, eher trompetenartige Instrument auf dem bekannten Ölgemälde von 1727 als Vorlage für meine Rekonstruktion eines Corno da Tirarsi zu nehmen.
GOTTFRIED REICHES „JÄGERTROMPETE“
Die Abbildung dieses hornartig gewundenen Trompeteninstrumentes, welches Reiche in seinen Händen hält, wird in Fachkreisen diskutiert. Die Abbildung des dargestellten Instrumentes war und ist Vorlage für viele mehr oder weniger ernsthafte Rekonstruktionsversuche – darunter auch die Version, die von Frank Syhre (Leipzig 1985 – siehe Foto weiter unten) unter Mitarbeit von Herbert Heyde entstand. Der von der Firma EGGER (Basel) entwickelte und als „Reichehorn“ bezeichnete teilweise Nachbau wurde mit einem zusätzlichen Einzelzug kombiniert – wie es Olivier Picon 2010 in seiner Diplomarbeit beschrieben hat.

Das Instrument steht – so zeigen es Untersuchungen – in der Grundstimmung in D = 415 Hertz und scheint überwiegend zylindrisch gebaut gewesen zu sein. Daher handelte es sich eher um eine Trompete als um ein Horn. Bemerkenswert ist auch das sehr massive und große Mundstück (was den Klang fixiert und die Ansprache verbessert) sowie das abgebildete Notenblatt, welches eindeutig keine besonderen Tirarsi-Töne zeigt, Gottfried Reiche aber als „hoch“qualifizierten Clarinbläser ausweist, der er zweifellos war.
In Bachs Denkschrift „Kurtzer; iedoch höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music „vom 23. August 1730 wird Gottfried Reiche als
1. Trompeter ausdrücklich von Bach gewürdigt. Es ist davon auszugehen, dass Gottfried Reiche als „Stadtpfeiffersenior“ derjenige Stadtpfeiffer war, der alle ersten Stimmen und somit auch die in Betracht kommenden Kantaten mit mutmaßlicher Beteiligung einer „Tromba da Tirarsi“ bzw. eines „Corno da Tirarsi“ in den Aufführungen spielte.



Pfeifer ist derjenige Instrumentenbauer und ausübende Musiker, der Gottfried Reiche räumlich und zeitlich in dessen ersten 30 Dienstjahren im direktesten räumlichen Kontakt gestanden haben muß. Bemerkenswert an diesem Instrument ist neben der hornartigen Wicklung die Schallstückform, die eher an eine Altposaune erinnert. Und so ist folgerichtig in den Akten des Museums von einem posaunenartigen Klang die Rede; und davon, dass die Töne b1 und f2 (7. und 11. Naturton) relativ gut zu brauchbaren Tönen getrieben werden konnten. Das Instrument stand wohl in D = 415 Hertz.
Vieleicht schlummert es irgendwo in einem Tresor oder hängt über dem Kamin eines trompetenbesessenen Egomanen und taucht irgendwann wieder auf?


Es ist das älteste weltweit erhaltene Jagdhorn dieser Bauart. Beachtenswert ist die phantastisch ausgewogene und überaus wohlproportionierte Form. Es handelt sich um ein durchgängig konisches Instrument mit original erhaltenem Mundstück in Form der später etablierten trichterförmigen Waldhornmundstücke. Auffällig ist die ähnliche Bauweise dieses Jagdhorns mit dem Instrument von Gottfried Reiche, welches in seinem Grundkorpus, ca. 150 Jare später, möglicherweise auch die Vorlage für das „Corno da Tirarsi“ war.


