Instrumente

Wie könnten die Tirarsi-Instrumente ausgesehen haben?

Ausgangspunkt für die Rekonstruktion des Zugteils eines Corno da Tirarsi ist die menschliche Anatomie. Zum Spiel der zusätzlichen naturtonfremden Töne wird theoretisch eine Verlängerung Rohrlänge von maximal drei Halbtönen benötigt. Aus der praktischen Erfahrung heraus sind ca. zwei Halbtöne ausreichend plus einer zusätzlichen Auszugslänge um einerseits Spieltraum für die Einzugtöne b1, f2 und a2 und andererseits Spielraum zur Feinstimmung zu haben. Diese Erwägungen zusammengenommen brachten den renommierten Instrumentenxperten Dr. Herbert Heyde zu folgender Aussage:

Auf Grund der Rohrlänge ist beim Zughorn nur an einen Doppelzug zu denken
Herbert Heyde: „Instrumentenkundliches über Horn und Trompete bei Johann Sebastian Bach“ in Johann Sebastian Bachs historischer Ort, Bach Studien 10, Breitkopf und Härtel Musikverlag, Wiesbaden, 1991, S. 261.

Vergleich zwischen EINZEL- und DOPPELZUG im Verhältnis zum Hornkorpus

Foto oben: mit einem EINZELZUG (rechts vom Hornkorpus: in maximal ausgezogener Position + Mundstück) ist es nicht möglich die nötige Vertiefung um die von Bach geforderten Töne zu realisieren. Die Armlänge reicht nicht aus.
Mit einem DOPPELZUG (links, über dem gelben Zentimetermaß in maximal ausgezogener Position + Mundstück) ist es kein Problem.

Die Entscheidung für einen separaten Doppelzug-Adapter am Mundrohr

Foto unten: prinzipiell könnte der Doppelzug in der Mitte oder am Mundrohr des Horninstrumentes angebracht werden.

Beim historisch verbürgten Inventionshorn ist das ausziehbare Rohrsegment in der Mitte des Hornkorpus´ plaziert; genau so wurde es bei der Inventionstrompete gelöst. Das rekonstruierte Corno da Tirarsi der Firma EGGER (Basel) hat das Zugteil, wie bei einer Posaune, quasi als Mundrohr montiert – oder anders gesagt: dem Instrumentenkorpus vormontiert.

Genau dieser Lösung entspricht auch meine Rekonstruktionsversuch (Foto unten). Der Doppelzug-Adapter kann auch für die Tromba verwendet werden. Zu sehen ist unten die Variante als Instrument in der Grundstimmung B = 415 Hz mit halb ausgezogenem Zugteil und massiven Mundstück welches dem auf dem Ölgemälde von Elias Hausmann zu sehenden massiven Mundstück nachempfunden wurde. Am Ende des Doppelzuges habe ich zudem ein modernes Ventil platzieren lassen um schnellstmöglich das Kondenswasser zu entfernen.

Wer hat Reiches Tirarsi-Instrumente gebaut?

Diese Frage ist nicht beantwortbar. Wir können nur spekulieren: geht man davon aus, dass Reiches Instrumente nach seinem Eintritt in die Ratsmusik in Leipzig gebaut worden sind, so kommt zunächst Heinrich Pfeifer (1652 – 1719), Thürmer der Thomaskirche seit 1680, in Betracht: „Thomas Thürmer auf dem Thomaskirchhofe“ … „Der Ehrenwohlgeachtete und Kunstreiche H.Heinrich Pfeiffler, Musicus Instrumentalis und Posaunenmacher“; der „Ehrbare und Kunstreiche H.Heinrich Pfeiffler, Trompet- und Posaunenmacher, auch E.E.Hochweisen Rathsbestallter Thürmer Zu St. Thomas alhier“ (Zitiert nach Herbert Heyde: „Trompeten Posaunen Tuben„, VEB Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1980, S. 116 ff). Pfeifer war demnach befähigt Blechblasinstrumente und Posaunenzüge zu bauen – und er war selber ein erfahrener Blechbläser auf dem Turm und damit wenige Meter entfernt von Gottfried Reiche tätig – beide müssen sich gekannt haben. Es könnte also durchaus der Fall gewesen sein, dass Heinrich Pfeiffer für Gottfried Reiche das Corno da Tirarsi gebaut hat – wie gesagt: es ist reine Spekulation.

Oben: „Jägertrompete“, 1697, Heinrich Pfeifer. Das Instrument war bis 1944/45 im Leipziger Musikinstrumentenmuseum überliefert und ist während der Kriegsauslagerung leider abhanden gekommen. Vielleicht taucht es dereinst wieder auf? Es existiert immerhin noch dieses Foto der gewundenen Trompete. Sie war gewickelt wie jenes Instrument, dass Reiche auf dem berühmten Portrait um 1727 in den Händen hält. Überliefert ist der überwiegend zylindrische Rohrverlauf, die Grundstimmung in „Des“, das eher posaunenartige Schallstück und die Informationen, dass sich b1 und f2 zu brauchbaren Tönen treiben liessen und der Klang eher einer Posaune glich. Die Trompete stammte aus Carlsfeld im Erzgebirge. Ob ein ähnliches Instrument die Vorlage für Reiches Tromba da Tirarsi war kann nicht beantwortet werden. Heinrich Pfeiffer kommt als ausübender Thürmer und Instrumentenmacher als Hersteller eines Tirarsi-Instrumentes von Gottfried Reiche in die engere Auswahl – es ist und bleibt alledings reine Spekulation.

Außerdem kommt in Leipzig noch Johann Eichentopf (1678 – 1769) in Frage. Er wohnte in der gleichen Gasse wie Gottfried Reiche. Sie waren also Nachbarn und müssen sich gekannt haben. Von Eichentopf existiert ein Waldhorn in G im Musikinstrumentenmuseum Basel. Eichentopf ist heute vor allem bekannt als Holzblasinstrumentenbauer und wird mit der Oboe da Caccia in Verbindung gebracht.

Andere Instrumentenbauer, vor allem aus Nürnberg, kommen ebenso in Frage, denn auf dem berühmten Ölgemälde ist erkennbar, dass Gottfried Reiche offenbar ein Instrument aus Nürmberger Produktion in den Händen hält.

Zwei Abbildungen von Gottfried Reiche

Das berühmte und bereits angesprochene Porträt aus dem Jahr 1726 ist nicht die einzige Abbildung von Gottfried Reiche.

Abbildung oben: Ausschnitt einer Figuralaufführung in Leipzig, 1710. Der abgebildete Hornist ist mutmaßlich Gottfried Reiche. Er hält das Schallstück seines gewundenen Horns nach oben. Möglicherweise war diese Haltung des Instrumentes auch die Handhabung für das Corno da Tirarsi.
Die obere Abbildung aus dem Jahr 1710 stützt die Hypothese zur Haltung des Corno da Tirarsi mit dem Schalltricher nach oben.

Der Gebrauch und die Klangcharakteristik der zu damaligen Zeit noch relativ neuen Hörner war auf jeden Fall noch nicht unseren heutigen Normen unterworfen – deutlich zu erkennen ist, dass das Horn nach oben gehalten wird; noch nicht nach hinten oder seitlich, wie es nach 1750 zunehmend üblich wurde. Auch die klangliche Differenzierung zwischen Trompete und Horn bzw. gar Posaune (siehe Informationen zum Schallstück des Pfeiffer-Instrumentes oben) war in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhundert noch nicht derartig genormt, wie wir es heute verstehen, was übrigens bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts auch bei den Streichinstrumenten mindestens in Mitteldeutschland der Fall war (z.B. Basse de Violon, Viola da spalla). Das vergleichweise „dunkel“ klingende Waldhorn und der Unterschied zur heller klingenden Trompete war noch nicht manifestiert, was sich auch in differenzierten Schallstückgrößen, verschiedenen Instrumententypen oder in der Nutzung unterschiedlicher Mundstückformen zeigte.

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Foto oben: Jagd-Waldhörner mit Mundstückaufnahme für ein Trompetenmundstück,
hergestellt von Friedrich Ehe (1669 – 1743), Nürnberg, 18. Jahrhundert. Privatbesitz.

MEINE TIRARSI-INSTRUMENTE

Meine Version eines rekonstruierten Corno da Tirarsi basiert auf der persönlichen Überlegung, dass sich ein Corno von einer Tromba klanglich tendenziell unterscheiden sollte. Allgemein wird gesagt, ein Corno besitzt einen überwiegend konischen Rohrverlauf, ist spiralförmig gewickelt und verfügt über ein zumindest etwas weiter als ein „normales“ Trompetenschallstück ausladendes Schallstück. Ausgehend von diesen Überlegungen folge ich mit meiner Version eines Corno da Triarsi der Abbildung der Leipziger Figuralaufführung von 1710 mit einem Horn in deutlicher „Horn-Optik“. Es sei drauf hingewiesen, dass das berühmte Instrument auf dem Portait Gottfried Reiches von 1726, auf den ersten Blick zwar ebenfalls eine „Horn-Optik“ aufweist aber bei genauem Hinsehen wohl eher eine gewundene Trompete mit überwiegend zylindrischen Rohrverlauf zeigt.

Die Ehe-Instrumente (siehe oberes Foto) mit originaler Mundstückaufnahme für Trompetenmundstücke sind jedenfalls die Vorlage für meine Version eines Corno da Tirarsi, dessen Hornkorkorpus von Stephan Katte, Weimar, im Jahr 2018 in historischer Handwerkstechnik nachgebaut wurde. Die Firma Blechblasinstrumentebau EGGER in Basel fertigte mir mehrere Doppelzug-Adapter. Einen Doppelzug baute Berthold Neumann, Dresden

Aus praktischen Erwägungen heraus entschied ich mich zudem dafür, den Doppelzugadapter nicht in die Mitte des Instrumentes (wie bei einem Inventionshorn) sondern sofort nach dem Mundstück anzuordnen, also vor das Mundrohr des Hornkorpus´ zu stecken.

Meine Version einer rekonstruierten Tromba da Tirarsi verfügt über das Schallstück einer teilrekonstruierten Riedel-Trompete von 1750 (Michael Münkwitz, Rostock, 1991) bei der ebenfalls nach dem Mundstück der Doppelzuadapter und anschließend der Instrumemntenkorpus angeordnet wird.

Foto oben: Das obere Horn-Instrument zeigt meine Version eines „Corno da Tirarsi“ (in B = 415 Hertz) mit DOPPELZUG zur Vertiefung der Naturtöne sowie zur Korrektur der „schiefen“ Naturtöne Nr. 7, 11, 13 und 14.

Die Grundstimmung in B (415 Hertz) scheint – so zeigen es die Erfahrungen – möglicherweise für die meisten (?) erhaltenen Tirarsi-Partien für Corno mit einem oder zwei „B“-Vorzeichen die ideale und gewollte Grundstimmung gewesen zu sein. In den auffallend vielen klingend notierten Stimmen mit zwei „b“ wird in diesem Fall dann ein Ganzton nach oben transponiert.

Um einen halben Ton nach A = 415 Hertz vertieft ist es ideal nutzbar z.B. für BWV 3, 8, 67, 107, 116, 124 und 136.

Foto oben: das untere Trompeten-Instrument zeigt meine Version einer „Tromba da Tirarsi “ in D (415 Hertz) mit kurzem DOPPELZUG zur Vertiefung der Naturtöne zur möglichen Aufführung der Kantaten BWV 69a, 103, 110 oder 126.
Foto oben: Das obere Horn-Instrument als Rekonstruktions-Variante eines „Corno da Tirarsi“ (in C = 415 Hertz) mit kurzem DOPPELZUG mit einer Auszugslänge für maximal einen Halbton; ideal nutzbar z.B. in BWV 16, 62, 65 (Choräle), 105 oder 178.

Foto oben, unteres Instrument: meine Version einer „Tromba da Tirarsi “ (in C = 415 Hertz) mit einem DOPPELZUG zur Vertiefung aller Naturtöne – bequem geeignet insbesondere zur Aufführung fast aller Kantaten mit naturtonfremden Tönen für Tromba wie z.B. BWV 20, 70, 75, 76, 77 oder 147. Vertieft um einen Ganzton nach B (= 415 Hertz) und ist die Tromba als Tirarsi-Instrument ideal nutzbar z.B. für BWV 5, 24, 46, 48, 90 oder 185.

Zu sehen sind auf dem Horn moderne GRIFFLÖCHER, die ich aber nicht in Kombination mit dem Doppelzug-Adapter nutze, sondern im Zusammenspiel mit zwei Hörnern.

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HALTUNGSOPTIONEN

Fotos oben: Die Haltung meines von Stephan Katte 2018 in Weimar gebauten Hornes – hier mit Doppelzugadapter als „Corno da Tirarsi“ – folgt der Abbildung der Leipziger Figuralmusik von 1710 (siehe oben) mit nach oben gehaltenen Schallstück. Diese Haltung des Schalltrichters taucht in vielen Abbildungen dieser Zeit auf, in Dresden beispielsweise zur berühmten Hochzeit des Kurprinzen 1719 mit der Kaiserstochter (

Möglich ist eine weitere Haltungs-Option: z.B. zur Aufführung von BWV 65, weil dort zwei unmittelbar mögliche Wechsel zu naturtonfremden Chorälen gefordert ist: das Corno da Tirarsi wird wie ein „normal“ gehaltenes Barockhorn mit seitlich bzw. nach hinten abstrahlenden Schalltrichter gehalten. In diesem Fall wird das Zugteil mit der linken Hand gezogen.

Zur Haltung der Hörner ist die Information von Johann Joachim Quantz, von 1716 bis 1741 Flötist der Dresdner Kapelle und Autor des umfassenden Werkes „Versuch, einer Anweisung, die Flöte traversiere zu spielen“, 1752, interessant. In seinem „Versuch“ berichtet er auf Seite 183 über die Aufstellung der Hörner im Dresdner Orchester, dass sie unmittelbar vor der ersten Reihe des Publikums standen „mit dem Rücken nach dem Zuhörern gekehret“, wodurch der Klang der Hörner unmittelbar in Richtung Publikum gerichtet war.


Das Foto oben ist in der Werkstatt von Stephan Katte, Weimar, im Jahr 2018 aufgenommen worden. Zu sehen ist der Rohling des späteren Schallstückrohrs meines „Corno da Tirarsi“ (Stephan Katte nennt das Instrument ohne Doppelzug „Tromba da caccia“). Der noch tütenfirmige Schalltrichter samt Rohr wird hier soeben verlötet. Anschließend wurde das Schallstück erneut erhitzt und über einem eisernen Dorn in traditioneller Handwerkstechnik ausgehämmert und in Form gebracht.

Die Firma Blechblasinstrumentenbau EGGER (Basel) hat in Zusammenarbeit mit Olivier Picon und Gerd Friedel eine Version des Corno das Tirarsi entwickelt, dessen Grundkorpus tendetiell auf dem Instrument von Gottfried Reiche basiert, welches auf dem bekannten Gemälde von 1726 zu sehen ist.

Die Firma Norbert Neubauer (Nürnberg) bietet eine weitere Version eines Corno da Tirarsi an.