KURZFASSUNG
Erstaunlich viele solistische Clarino-, Corno- und Tromba-Stimmen in Johann Sebastian Bachs Leipziger Kantaten zwischen 1723 und 1731 – sowie zwei Kantaten von Bachs Amtsvorgänger Johann Kuhnau (1660 – 1722, Thomasorganist seit 1684, Thomaskantor seit 1701) – enthalten zusätzliche naturtonfremde Töne. Die Kernfrage der Tirarsi-Debatte handelt davon, mit welchen technischen Mitteln diese zusätzlichen Töne, die die Ausdrucksmöglichkeiten von Corno und Tromba bedeutend erweiterten, gespielt wurden.
Die Aussage Johann Kuhnaus „… mit einer Trompete wolte imitieret haben /… / … und wo sich … nach jetziger Invention eingerichtet ist / daß sie sich nach Art der Trombon ziehen lässt…“ (siehe Johann Kuhnau: „Der musicalische Quack-Salber„, Dresden, 1700, S.82 f.) ist neben dem technischen Detail („… nach Art der Trombon ziehen …“) auch deshalb so interessant, weil sich hier mit Kuhnau ein wesentlicher Protagonist der frühen Leipziger Tirarsi-Ära relativ konkret äußert.
Bach beglaubigt persönlich in sechs Kantaten die Bläserstimmen bzw. Partituren, in denen er die von den Kopisten geschriebenen Instrumentennamen mit dem Zusatz „da Tirarsi“ versieht bzw. in Gänze mit „Corno. da Tirarsi“ bzw. „Tromba da Tirarsi“ (übersetzt: Horn/Trompete „zum ziehen“) bezeichnet. Er verweist damit auf den Vorgang der posaunenartigen Rohrverlängerung (ausziehen), wodurch die zusätzlichen Töne flexibel, sauber und bequem spielbar werden.
Der renommierte Instrumentenkundler Dr. Herbert Heyde sagt: „Auf Grund der Rohrlänge ist beim Zughorn nur an einen Doppelzug zu denken“ (siehe Herbert Heyde: „Instrumentenkundliches über Horn und Trompete bei Johann Sebastian Bach“ in Johann Sebastian Bachs historischer Ort , Bach Studien 10, Breitkopf und Härtel Musikverlag, Wiesbaden, 1991, S. 261) und verweist damit auf die Armlänge als den limitierenden Faktor, weshalb ein Einzelzug zumindest bei einem Horn ausgeschlossen werden kann.
Das Corno (bzw. die Tromba) wurde demnach offenbar mit einem zusätzlichen Adapter, einem posaunenartigen Doppelzug kombiniert, um die zusätzlichen Töne spielen zu können. Es war vermutlich die solitäre Lösung des hoch angesehenen Leipziger Stadtpfeifferseniors, Trompeters und Hornisten Gottfried Reiche, der auch eine Ausbildung als Posaunist erhalten hatte und somit die Zugtechnik beherrschte.
Zu dieser Lösung kam – unabhängig (!) von den Bemühungen des Kreises um den Hornisten Olivier Picon in Basel um 2010 – bereits in der 1990er Jahren der Trompeter und Hornist des Bach Collegium Japan, Toshio Shimada.
Es kristalisieren sich folgende sechs Tirarsi-Kriterien heraus: Die (1.) solistischen Tirarsi-Stimmen für Corno oder Tromba in Bachs Leipziger Kantaten zu (2.) Lebzeiten von Gottfried Reiche enthalten (3.) naturtonfremde Töne, verdoppeln (4.) in den Chorälen den Sopran und sind, mit wenigen Ausnahmen, (5.) klingend (nicht transponierend) sowie (6.) in den obligaten Arien und Chören stimmend (transponierend) notiert. Eine stattliche Zahl an weiteren Solostimmen für Corno und Tromba zwischen 1723 – 1731 entspricht diesen SECHS KRITERIEN, obwohl sie nicht zusätzlich mit „da Tirarsi“ bezeichnet wurden, weshalb diese besonderen Stimmen ebenfalls zur Gruppe der Tirarsi-Partien hinzugezählt werden können.
Wer abkürzen möchte, um sich die nachfolgende sehr ausführliche Indizeinkette zu ersparen, könnte auch „nur“ einen Blick auf die bekannten Fakten und Indizien der Kantatenaufführungen am 20. Juni (BWV 24 und BWV 185), 24. Juni (BWV 167) und 1. August (BWV 46) des Jahres 1723 werfen: die wesentlichsten Aspekte der Tirarsi-Kunst wären damit untersucht.
DIE AUSFÜHRLICHE INDIZIENKETTE – FÜR INSIDER UND LIEBHABER
Die Indizien für die Stichhaltigkeit der Tirarsi-Thesen finden sich in den erhaltenen originalen Aufführungsmaterialien. Entlang der wöchentlich entstandenen Stimmen und Partituren der Kantaten läßt sich der Prozess der Einführung, Entwicklung und Benennung der Tirarsi-Instrumente (Horn: „Corno“, „Cornio“, „Corn.“, „Cornu“, „Corni“, „Corno da Caccia“, „Cornu da Caccia“, „Corno per force“, „Corno par force“, „Clarino“, „Cornu du chass“, „Corne de Chasse“, später auch „Litui“ und natürlich „Corno. da Tirarsi“; Trompete: „Tromba“, „Tromba.“, „Trombe.“, „Clarino“ und natürlich „Tromba da Tirarsi“) ausführlich nachvollziehen. Dabei werden die Stimmen den Partituren vorgezogen, weil aus ihnen die ausübenden Musiker und insbesondere Gottfried Reiche spielten.
Die Indizienkette reicht von der Aufführung von Bachs erster Leipziger Kantate am 30.5.1723 bis nach Gottfried Reiches Tod im Oktober 1734, beginnt aber vielleicht bereits weit vor der 1999 wieder aufgetauchten „Clarino“-Stimme (die viele naturtonfremde Töne enthält) der Kantoratsprobe von Johann Sebastian Bach in Leipzig am 7.2.1723. Denn die Tirarsi-Kunst kann nicht 1723 urplötzlich „aus dem Nichts“ heraus aufgetaucht sein. Der Leipziger Stadtpfeiffersenior Gottfried Reiche muß sie bereits zu Zeiten von Bachs Amtsvorgänger Johann Kuhnau (1660 – 1722), vielleicht schon vor 1700, entwickelt haben (siehe das nachfolgende Kuhnau-Zitat von 1700). Immerhin zwei von den wenigen erhaltenen ca. 30 Kantaten Kuhnaus – nach Expertenmeinung von vermutlich bis zu ca. 2000 verschollenen Kirchenstücken! – enthalten naturtonfremde Tirarsi-Töne. Eine dieser beiden Stimmen (Kantate „Gott, der Vater, steh uns bei“) ist sogar in der Partitur mit „Tromba da Tirarsi“ bezeichnet. Und diese Stimme enthält nicht nur naturtonfremde Töne in der tiefen Lage, sondern auch unmittelbar wechsende Passagen in der (unteren) Clarin-Lage (in denen der 11. und 13. Naturton möglicherweise mit dem Zug korrigiert wurde), wie es später bei Bach für dessen Tirarsi-Partien teilweise typisch ist.
Die Indizienkette hat durch ihren Umfang und die praktische Anwendung in meinen Augen sehr viel Plausibilität und annährend Beweiskraft – es fehlt jedoch der letzte unmissverständliche Beleg: eine konkrete originale Beschreibung, eine glasklare Abbildung oder ein erhaltenes originales Tirarsi-Instrument. Derartige 100%ige „Beweise“ wird es nach drei Jahrhunderten nicht mehr geben können – zu speziell, zu einzigartig war das Zusammenwirken von Johann Kuhnau/Johann Sebastian Bach und Gottfried Reiche. Die Meinungen über das Thema werden also weiterhin auseinandergehen und es wird somit immer Spielraum für mehr oder weniger gut begründete Theorien und Spekulationen geben.
Ernster genommen als bisher sollte jedoch die hoch interessante Aussage Johann Kuhnaus zur Zugtrompete: „… mit einer Trompete wolte imitieret haben /… / … und wo sich … nach jetziger Invention eingerichtet ist / daß sie sich nach Art der Trombon ziehen lässt…“ (siehe Johann Kuhnau: „Der musicalische Quack-Salber„, Dresden, 1700, S.82 f.). Dieses Zitat ist auch deshalb so interessant weil sich hier ein wesentlicher Protagonist der Tirarsi-Ära zum Instrumentarium konkret äußert: „daß sie (die Trompete) sich nach Art der Trombon ziehen lässt“.
Es ist hier nicht die Rede von Grifflöchern. Wir können konstatieren, dass keine Beweise und literarische Quellen oder Beschreibungen zur Nutzung der Stopftechnik vor 1750 existieren. Stattdessen spricht Kuhnau klar von der Posaunenzugtechnik: „daß sie (die Trompete) sich nach Art der Trombon ziehen lässt“.
Ein weiterer Aspekt: Stimmen, die den Tirarsi-Kriterien entsprechen und von Bach mit „Corno“, „Corno.“, „Cornio“, „Corn.“, „Cornu“, „da Caccia“, „du Chasse“ usw. eindeutig für Horn benannt wurden, heutzutage stattdessen mit einer einzügigen Zugtrompete, mit Zinken oder Altposaune zu besetzten, sind Ersatzlösungen: Bach hat unmissverständliche Hinweise gegeben, dass er zu Reiches Lebzeiten zwischen Horn, Trompete, Zink und Posaune und allen anderen Instrumenten differenzierte! Es war also offenbar nur unter Zuhilfenahme des Doppelzuges möglich, einige der anspruchsvollsten Corno-Partien (BWV 24, 46, 95, 105, 109, 162) akzeptabel aufzuführen, wenn man sie nicht als „unspielbar“ deklarieren möchte.
Die nachfolgend präsentierten Stimmen und Partituren sind chronologisch geordnet. Sie wurden mit Ausnahme der Kuhnau-Kantate allesamt der öffentlich zugänglichen Dokumenten-Präsentation „Bach digital“ des Bach-Archivs Leipzig entnommen.
Bach digital ist ein Gemeinschaftsprojekt der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden, der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky und des Bach-Archivs Leipzig mit dem Rechenzentrum der Universität Leipzig.Bach-Archiv Leipzig
Stiftung des öffentlichen Rechts.
PROLOG MIT JOHANN KUHNAU

https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN772081557&PHYSID=PHYS_0063&DMDID=DMDLOG_0002
Diese Kantate ist vielleicht nur die Spitze eines verschollenen „Tirarsi-Eisbergs“ innerhalb der erstaunlich vielen „Kirchestücke“ Johann Kuhnaus (Experten sprechen von bis zu 2000 Stück), die vermutlich weitere Tirarsi-Partien enthielten. Bereits in den lediglich ca. 30 erhaltenen Kuhnau-Kantaten finden sich zwei tirarsi-typische Partien notiert, was die Erwartung rechtfertigt, dass Kuhnau in den verschollenen Kirchestücken für Gottfried Reiche weitere Tirarsi-Partien komponiert hat.
Gottfried Reiche war vor Kuhnaus Dienstantritt als Thomaskantor (1701) seit 1688 in der Leipziger Kirchenmusik tätig und hatte möglicherweise bereits als junger Mann seine singulären Tirarsi-Instrumente in der Kirchenmusik etablieren können. Kuhnau könnte, während er sein Buch „Der musicalische Quack-Salber„ schrieb, Reiches Tirarsi-Instrumente vor Augen gehabt haben. Er sei deshalb hier noch einmal zitiert:
„… mit einer Trompete … /… / … und wo sich … nach jetziger Invention eingerichtet ist / daß sie sich nach Art der Trombon ziehen lässt…“ (siehe Johann Kuhnau: „Der musicalische Quack-Salber„, Dresden, 1700, S.82 f.).
7.2.1723 – BACHS PROBEKANTATE BWV 23

Kantate „Du wahrer Gott und Davids Sohn“, BWV 23.
Die ausradierte, aber noch erkannbare Instrumentenbezeichnung „Clarino“ stammt vom Februar 1723. Es handelt sich um die Fassung der Bewerbungs-Kantate, die in anderer Besetzung (mit einem Zinken und drei Posaunen) später zur Aufführung kam. Sie wurde von Johann Andreas Kuhnau, Leipziger Hauptkopist (Neffe von Bachs Vorgänger im Amt, Johann Kuhnau) geschrieben. Von C. P. E. Bach stammt in dieser Stimme die später hinzugefügte Bezeichnung „Canto“ und C. F. Zelter schrieb nachträglich „ripieno“ sowie die Textunterlegung der Stimme.
Sie wurde erst 1999, zusammen mit anderen Ripieno-Stimmen, vom renommierten Bachforscher Christoph Wolff in Kiew gefunden.
Bemerkenswert an dieser Partie sind in unserem Zusammenhang die die Bezeichnung „Clarino“, die darin vorkommenden naturtonfremden Töne sowie die Schreibweise im Sopranschlüssel. Eine im Sopranschlüssel notierte „Clarino“-Stimme mit naturtonfremden Tönen ist in Bachs Werk einzigartig. Ein Sopranschlüssel kommt bei Bach für das Instrument „Cornetto“ (Zink) gelegentlich (u.a. BWV 4, BWV 23 Zweitfassung, BWV 28, BWV 64) in Betracht; der Cornetto (Zink) erscheint aber immer kombiniert mit drei Posaunen, die hier nicht existieren, bzw. in Kiew nicht aufgetaucht sind. Der Instrumentenname „Clarino“ bezeichnet bekanntlich ein Blechblasinstrument in hoher Lage und nicht automatisch eine Tromba. Zusätzliche, naturtonfremde Töne sind für ein solches Instrument – in Frage kommt eine „Tromba“ (Trompete) oder ein „Corno“ (Horn) – bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls untypisch.
Nicht erst Bachs Bewerbungskantate wirft also die Frage auf, ob ein Zuginstrument verwendet worden ist und ob bereits ein Doppelzug genutzt wurde weil diese Ripieno-Stimme ausgesprochen virtuos angelegt ist. Kaum vorstellbar, dass dies mit einem schwerfälligen Einzelzug gespielt wurde. Hinzu kommt, dass auch Kuhnaus verbürgte „Tromba da Tirarsi“-Partie (siehe oben) sich im „Presto“-Bereich bewegt, was mit einem Doppelzug wesentlich bequemer auszuführen ist. Wir stellen fest: mehrere Indizien sprechen daür, dass die einzigartige Tirarsi-Kunst in Leipzig vermutlich vor 1723 etabliert war – ein für künftige Forschungen möglicherweise lohnender Ansatzpunkt. Vielleicht finden sich noch weitere ähnlich interessante Funde in osteuropäischen Archiven und Bibliotheken (Stichwort „Beutekunst“), wie sie Christoph Wolff 1999 in Kiew geglückt sind ?
Auf den Begriff „Clarino“ kommen wir späterer zurück. Uns geht es zunächst um die Begriffe „Naturtöne“ oder „Naturtonskale“, weil diese Fachbegriffe in unserem Kontext einer der zentralen Aspekte sind.
DIE NATURTONREIHE


Auf der Posaune wurde das „Problem“ durch die geniale Erfindung des beweglichen Doppelzuges (um 1430 ?) gelöst. Die Hoftrompeter aber hielten sich spätestens nach 1623 (Gründung der Reichszunft der Trompeter und Pauker) streng an den Tonvorrat der Naturtonreihe, weil sie Spielhilfen ablehnten – die Stadtpfeiffer nicht! Diese nutzen zum Turmblasen der geistlichen Stücke gewöhnlich auch die gemeine Zugtrompete, den „einbeinigen Verwandten der Posaune„, mit teleskopartig ausziehbaren Mundrohr zur Erzeugung zusätzlicher Töne. Die Beweglichkeit auf diesem Instrument war allerdings limitiert, weil die doppelt so langen Distanzen der Zugtrompete (im Vergleich zur Posaune mit seinem Doppelzug) nur eine eingeschränkte Virtuosität erlaubte. Für schnellere Stücke wurden in der mittleren und oberen Lage von den Stadtpfeiffern gerne Zinken verwendet, während dies für die Posaunen in den tieferen Stimmen auf Grund des beweglicheren Doppelzuges kein Problem darstellte.
DIE LEIPZIGER STADTPFEIFFER
In Leipzig war offenbar die Blächbläser-Kultur der Stadtpfeiffer bei Bachs Dienstantritt auf einem außerordentlichen Niveau. Die scheinbar „wie aus dem Nichts“ 1723 auftauchenden zusätzlich vorkommenden Töne in den Kantaten Bachs, die außerhalb der Naturtonreihe lagen und virtuos verwendet wurden sind bemerkenswert. Davon zeugen konkret die anspruchvollsten Partien für Trompete und Horn, insbesondere BWV 5, 20, 23, 24, 46, 67, 68, 77, 95, 105, 109, 162 (und viele andere – siehe Listen der Tirarsi-Kantaten), von denen einige wenige von Bach ergänzend mit dem Zusatz „da Tirarsi“ markiert wurden. Diese schriftlich von Bach „beglaubigten“ Tirarsi-Partien erlauben auf Grund gewisser gemeinsamer Kriterien Rückschlüsse auf viele weitere Partien, die ebenfalls derartige zusätzlichen Töne enthalten, aber nicht mit „da Tirarsi“ markiert wurden.
KÜNSTERLICHER EINSATZ IN ZWEIERLEI ART UND WEISE
Die Tirarsi-Instrumente wurden von Bach als Solo-Instrument in zweierlei künsterlischen Aufgabenfeldern solistisch eingesetzt: entweder zur Dopplung und damit Verstärkung des Soprans in den Chören und Chorälen; oder in obligaten Arien, hier oft raffiniert-virtuos, gelegentlich in spektakulären, bis dahin nicht für möglich gehaltenen (Tirarsi-) Partien. Die Stimme für „Tromba da Tirarsi“ der Kuhnau-Kantate „Gott, der Vater, wohn uns bei“ ist ebenfalls solistisch und klingend notiert – siehe oben.

Die Tromba-Partie dieser Kantate ist sind ähnlich wie in der unten stehenden Kantate „Wo soll ich fliehen hin“, BWV 5 vom 15. Oktober 1724. Sie enthält in beiden Kantaten einen Choral mit zusätzlichen Tönen, die außerhalb der Naturtonskale stehen. Der Choral ist jeweils klingend notiert und verdoppelt den Sopran. Die obligaten Tromba-Partien der Aria ist jeweils konzertierend, zudem stimmend (transponierend) notiert und hat keine Töne außerhalb der Naturtonskale. Einziger Unterschied: Bach „quetschte“ in die „Tromba“-Stimme von BWV 5 (unten) hinter den Instrumentennamen noch den Begriff „da Tirarsi“ – in den Stimmen von BWV 147 tat er es nicht. Über die Gründe dazu an späterer Stelle.
BACH PERSÖNLICH SCHREIBT GELEGENTLICH HINTER DEN INSTRUMENTENNAMEN DEN BEGRIFF „DA TIRARSI“


Hier nahm sich Bach während er Revision vor der Aufführung die nötige Zeit, um den zusätzlichen Begriff „da Tirarsi“ hinter den Instrumentennamen zu scheiben. Er tat es in BWV 67 vermutlich deswegen, weil unter der herrschenden Zeitnot (die Komposition einer Kantate jagte von Woche zu Woche die nächste Komposition einer Kantate) auf dem ersten Blick in die Corno-Stimme für Gottfried Reiche nicht sofort ersichtlich war, dass die Corno-Stimme „Tirarsi“-Töne enthält.Ebenso verhält es sich in BWV 162.
In vielen anderen Fällen, die nach gleichen Kriterien und Maßstäben hinsichtlich des verwendeten Tonmaterials und der Schreibweise als identisch identifiziert werden können, notierte er den zusätzlichen Begriff „da Tirarsi“ nicht. Es gibt andere schriftliche Anweisungen von bach bzw. seinen Kopisten, in denen sich Weglassungen von schriftlichen Anweisungen auf anderen Wegen erschließen: (z.B der Instrumentenwechsel in BWV 14, viele Artikulations- und Dynamikzeichen in diversen Kantaten).

Es handelt sich um das Stimmenmaterinal der Leipziger Wiederaufführung der ursprünglich für Weimar komponierten Kantate und liefert gewichtige Argumente für die Stichhaltigkeit der Tirarsi-Thesen. Einerseits weil diese Kantate um 1715 in Weimar noch ohne Blechblasinstrument aufgeführt wurde: Gottfried Reiche stand in Weimar mit seinen singulären Tirarsi-Instrumenten noch nicht zur Verfügung; und weil die Stimme mit dem von Bach eigenhändig geschrieben Zusatz „da Tirarsi“ quasi „beglaubigt“ wurde. Die für diese Stimme geltenden Kriterien bilden zusammen mit den anderen von Bach gekennzeichneten Stimmen den Maßstab zur Beurteilung der nicht von Bach mit „da Tirarsi“ bezeichneten Stimmen, um sie der Gruppe der Tirarsi-Stimmen zuordnen zu können.

Instrumentenbezeichnung „Tromba“ in der Partitur (Sinfonia Nr. 8) der Kantate „Die Elenden sollen essen“, BWV 75 vom 30. Mai 1723. Bereits die Tromba-Stimme der Sinfonia Nr. 8 enthält naturtonfremde Töne.
Wir wissen leider nicht, welchen Instrumentennamen der Kopist J.A.Kuhnau der Stimme gab – der komplette Stimmensatz ist leider verloren. Die originalen Stimmen sind generell den Partituren vorzuziehen, weil aus Ihnen Bachs Musiker spielten und daher den letzten Stand der Aufführung abbilden. Auch von der eine Woche später am 6.6.1723 auf BWV 75 folgenden Kantate BWV 76 ist leider keine originale Tromba-Stimme sonder „nur“ die Partitur erhalten.
DIE ERSTEN BEIDEN LEIPZIGER KANTATEN

Diese vermutlich früheste Leipziger Tromba-Partie Bachs ist in der Partitur (noch) STIMMEND (in G) notiert. Der ausübende Musiker muß die Tromba-Stimme transponieren – auch im Choral. BWV 75 steht am Anfang der Tirarsi-Epoche und ist in dieser Notation eine Ausnahme: fast alle nachfolgenden Solo-Stimmen werden in den Chorälen KLINGEND notiert, wenn sie naturtonfremde Tönen enthalten – im Gegensatz zu den Stimmen, die immer mit zwei (oder drei) Trompeten oder Hörnern besetzt sind und keine naturtonfremden Töne enthalten.

In der Kantate BWV 76 vom 6.6.1723, eine Woche später, ist die Situation prinzipiell identisch. Einige Unterschiede gibt es dennoch: die Tromba-Partien in Nr. 1 und Nr. 5 sind eine Spur anspruchsvoller im Gebrauch der „schiefen“ Naturtöne Nr. 11 und 13. Und die Choräle enthalten neben a1 und h1 in BWV 75 in BWV 76 zusätzlich die naturtonfremden Töne d1, f1, und gis. Ob die Choräle mit naturtonfremden Tönen ab Bachs zweiter Leipziger Kantate BWV 76 klingend notiert sind, wie es später in den Stimmen (fast) immer das Fall sein wird, kann nicht festgestellt werden weil die Stimmen leider verschollen sind.






Die Tromba verdoppelt den Sopran und benötigt dafür die natutonfremden Töne d1, f1, gis1, a1 und h1.
Die Stimme ist nicht erhalten. Wir können spekulieren, ob sie bereits, wie fast alle nachfogenden Partien dieser Art, klingend notiert wurde.
Bevor unsere Tirarsi-Geschichte zwei Wochen später am 20. und 24. Juni spektakulär weitergeht greift Bach am 13.6.1723 auf die Kantate BWV 21, „Ich hatte viel Bekümmernis“ zurück, welche er bereits u.a. in Köthen und Weimar und möglicherweise auch in Hamburg aufgeführt hatte. Die drei Trompetenstimmen der triumphalen Schlußchores enthalten keine naturtonfremden Töne.
BWV 24: DIE ERSTE SPEKTAKULÄRE (TIRARSI-)STIMME
Wenden wir uns nun ausführlich dem 20. und 24. Juni 1723 zu. Zwei Kantaten – vor und nach der Predigt – wurden am 20. Juni aufgeführt: BWV 24 und BWV 185 – sie enthalten jeweils eine „Clarino“-Stimme. Vorweg sei gesagt: bereits am 24. Juni 1723 folgte BWV 167, ebenfalls mit einer „Clarino“-Stimme die in der autographen Partitur mit „Corno“ besetzt war.

(„Tutti“-)Choro Nr.3, „Alles nun, das ihr wollet„.
Die Zahl der naturtonfremden Töne hat sich gegenüber den ersten beiden Kantaten noch einmal bedeutend erhöht. Im „Tutii“ Nr. 3 kommen fogende zusätzlichen Töne vor: a1, h1, cis2, es2, gis2 (as2), im Choral Nr. 6 die Töne f, a, d1, a1, h1, es2 und as2 .
Diese Partie ist ein absoluter Meilenstein. Es ist neben der Berwerbungskantate (erste Fassung von BWV 23) die früheste spektakuläre „Tirarsi-Kantate“ von Bach – geschrieben in der schönen Schrift des Hauptkopisten Johann Andreas Kuhnau, der diese Stimme mit „Clarino“ bezeichnet. Sie wurde von Bach (noch) nicht zusätzlich mit „da Tirarsi“ schriftlich benannt.
Spätestens in BWV 24 kommt die gewöhnliche „einspurige“ Zugtrompete der Stadtpfeiffer an ihre Grenzen, denn die Stimme enthält krasse Sprünge und Tonrepititionen mit naturtonfremden Tönen. Die Handhabung des Einzelzuges mit der benötigten Länge von ca. 50 cm ist für eine derartig ambitionierte Partie zu träge und umständlich. Ein Zug-Horn mit ausziehbarem Einzelzug scheidet aus anatomischen Gründen aus: der menschliche Arm ist zu kurz um die geforderten zusätzlichen Töne mit einem 50 cm langen Einzelzug produzieren zu können.
Reiche könnte diese überaus anspruchvolle Partie mit einem Doppelzug bewältigt haben – und den Choral Nr. 6 „O Gott, du frommer Gott“ dieser Kantate ebenfalls mit einem Doppelzug auszuführen: in beiden Nummern dieser Kantate vermutlich mit einem Corno (da Tirarsi).
Warum? Weil mindestens alle verfühbaren Informationen zu den benachbarten Kantaten BWV 185 (am selben Tag aufgeführt wie BWV 24) und BWV 167 (vier Tage nach BWV 24 und BWV 185 aufgeführt) in die Überlegungen einbezogen werden müssen. Der Blick auf diesen Kontext ist entscheidend (wie sich später bei den Kantaten BWV 105 und 77 ebenfalls zeigen wird)!
Doch zunächst zurück zum Choral Nr. 6 „O Gott, du frommer Gott“ der Kantate BWV 24:

Diese Partie ist in meinen Augen ideal aufführbar mit einem Corno-Instrument in B = 415 Hertz in Verbindung mit einem Doppelzug (= „da Tirarsi“). Die „überschlagende Haue“ am Ende des Chorals – üblicherweise eine typische Naturton-Floskel – ist mit einem Tirarsi-Instrument in B elegant und klanglich einwandfrei spielbar.
Es gibt auch die interessante Meinung, hier sei ein Horn in F gespielt worden: eine Quinte nach oben transponiert ist die gesamte Stimme für ein F-Horn ohne Zug spielbar, wenn die schiefen Naturtöne getrieben werden, was hier kein großes Problem ist. Ein reines Naturinstrument ohne Spielhilfen scheidet aber definitiv für die „Tutti“-Partie in Nr. 3 aus. Wer allerdings einen Instrumentenwechsel zu einem Horn im Schlußchoral für möglich hält könnte sich auch fragen, warum nicht gleich im Eingangschor ein Corno (da Tirarsi) einsetzt wurde? Dafür spricht auch, dass drei Tage später, in der originalen Partitur von BWV 167, die Instrumentenbezeichung „Corno“ erscheint, während der Kopist Johann Andreas Kuhnau die Stimme mit „Clarino“ bezeichnete.
Zu gerne wüßten wir, welches Instrument Bach bevorzugte und wofür sich letztlich Gottfried Reiche entschied: nahm er für die Partien in BWV 24, 167 und 185 am 20. und 24. Juni 1723 ein Horn – oder eine Trompete? Wechselte er zwischen den Eingangschören und Chorälen? War die Instrumenten-Entscheidung eine reine Geschmacksache Gottfried Reiches oder sprach Bach bei dieser Frage das entscheidende Wort? Die konkreten Instrumentenanweisungen Bachs in anderen Kantaten deuten jedenfalls darauf hin, dass Bach zu Lebzeiten Gottfried Reiches eindeutige Vorstellungen hatte!
Kaum vorstellbar ist es, dass Bach in diesen und anderen Fragen mit seinem Stadtpfeiffer-Senior keinen kollegialen Umgang pflegte. Seine Wertschätzung für Gottfried Reiche drücke Bach jedenfalls fast wöchentlich durch seine kontinuierliche Produktion anspruchsvollster (Superlativ!) Kompositionen aus, die es überhaupt in diesem Zeitalter für Trompete und Horn gibt.
Interessant sind zu BWV 24 die Überlegungen von Kirsten Beißwenger und Uwe Wolf im Bach-Jahrbuch Nr. 79, 1993, Seiten 91 – 101: Tromba, Tromba da tirarsi oder Corno? Zur Clarinostimme der Kantate „Ein ungefärbt Gemüte“ BWV 24 https://journals.qucosa.de/bjb/article/view/1935/1861
FRÜHE CLARINO-STIMMEN: CORNO DA TIRARSI-STIMMEN?

Zur Erstaufführung der Kantate BWV 185 am 14. Juli 1715 in Weimar war in dieser Nummer der Kantate kein Blechblasinstrument besetzt – wie in BWV 162 (siehe unten) wodurch wir zwei starke Indizien für die Stichhaltigkeit der Tirarsi-Thesen vermerken können.
Zusammen mit der Clarino-Stimmen in BWV 24 und den nachfolgenden Partien ist die Stimme von BWV 185 ein gewichtiger Meilenstein der Entwicklung. Die Clarino-Stimme erfüllt alle Tirarsi-Kriterien in den Chorälen: sie ist klingend notiert, enthält naturtonfremde Töne und verdoppelt den Sopran.
Interessant sind dazu die Überlegungen von Kirsten Beißwenger und Uwe Wolf im Bach-Jahrbuch 79, 1993, Seiten 91 – 101: Tromba, Tromba da tirarsi oder Corno? Zur Clarinostimme der Kantate „Ein ungefärbt Gemüte“ BWV 24 https://journals.qucosa.de/bjb/article/view/1935/1861
BWV 167: DIE ERSTE VERBÜRGTE „CORNO“-STIMME IN BACHS LEIPZIGER KANTATEN


WAS BEDEUTET DIE BEZEICHNUNG „CLARINO“?
„Clarino“ bezeichnete nicht ausschließlich eine hohe Trompete sondern grundsätzlich ein hohes Blasinstrument – egal ob Horn oder Trompete. Dass J.A. Kuhnau in BWV 167 eine Clarino-Stimme schrieb, deren Töne eher in der tiefen Lage angesiedelt sind verwundert. Stichhaltig ist deshalb möglicherweise die Vermutung, dass für Kuhnau „Clarino“ in dieser Phase ein Begriff war, welcher in seinen Augen vielleicht ein Instrument benannte, welches eher einen neuartigen, in seinen Augen leicht leicht unklaren Charakter hatte. Betrachten wir die konkrete Situation: J.A. Kuhnau, Bachs Hauptkopist, bekam die Partituren oder Teile der Partituren von Bach auf den Schreibtisch und musste schnellstmöglich unter Zeitdruck die Stimmen erstellen. Er bemerkte dass diese Corno- (und Tromba-)Stimmen zusätzliche Töne enthielten, die eigentlich nicht auf solchen Instrumenten funktionieren. Wählte er mit „Clarino“ einen Instrumenten-Namen, damit zumindest unmissverständlich eine „Trombona“ oder „Cornetto“ ausgeschlossen wird?
Leider fehlen aus den Sommermonaten 1723 einige wichtige originale Stimmen (BWV 75, 77, 105) – es gibt hier leider „lediglich“ die Partituren), deren Kenntnis die Beurteilung der Instrumentation wesentlich erleichtern würde, wie wir es im Fall von BWV 48 noch sehen werden.
Es ging J.A. Kuhnau jedenfalls nicht darum, für viele Jahrhunderte später einwandfreie Aufführungsmaterialien zu erstellen, sondern so effizient wie möglich die wöchentlichen Aufführungen zu gewährleisten. Manchmal ging es vermutlich in der Schreibwerkstatt zwischen Bach (Partitur) und J.A. Kuhnau (Stimme) unter Zeitdruck auch ziemlich hin und her. Anschauliche Beispiele dafür sind BWV 167 oder BWV 48. Siehe auch die Überlegungen von Olivier Picon in dessen Diplomarbeit.
Diese Vorgänge in ihrer Gesamtheit erhellen uns trotzdem auf jeden Fall den Schaffensprozess von Johann Sebastian Bach (und Gottfried Reiche) auf der einen Seite und die Rolle von Johann Andreas Kuhnau auf der anderen Seite. Während der frühen Phase der Etablierung der für Bach neuartigen „Tirarsi-Instrumente“ und insbesondere des Corno da Tirarsi war die korrekte schriftliche Bezeichnung der Instrumente wohl weniger wichtig gewesen, sondern im Hintertreffen gegenüber dem mündlichen Austausch während der Proben, über den wir nur Mutmaßungen anstellen können.
Im weiteren Verlauf der wöchentlichen Kantatenproduktion wird die schriftliche Benennung der Blechblasinstrumente zunehmend konkreter. Am 18.7.1723 erscheint in den Aufführungsmaterialien vom BWV 136 zum Beispiel in der Stimme bereits zum zweiten Mal bei Bach (in Leipzig) der Name „Corno“.
Vor BWV 136 jedoch kam es zur Aufführung der Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“, BWV 147, die bereits in Weimar 1716 in Teilen aufgeführt wurde:
JESU BLEIBET MEINE FREUDE: EINER DER BRÜHMTESTEN BACHCHORÄLE – IN LEIPZIG MIT TROMBA DA TIRARSI


Von der ursprünglichen (einteiligen) Weimarer Kantate BWV 147a, die in Leipzig 1723 wiederverwendet wurde, ist nur Satz 1 in der autographen Partitur überliefert. Ob weitere Sätze vorlagen, lässt sich nicht sicher bestimmen. Die ursprünglich für den 4. Advent 1716 konzipierte Kantate war die letzte in Weimar fertiggestellte Kirchenkomposition Bachs. Weil auf Grund der strengeren Fastenbestimmungen zwischen 1. Advent und Weihnachtsmorgen in Leipzig keine Figuralmusik gespielt wurde, widmete Bach sie für das Fest Mariä Heimsuchung um und führte sie so in erweiterter Form am 2. Juli 1723 erstmals auf.
Der Choral „Jesu bleibet meine Freude“, der heutzutage zu Bachs meistarrangierten Kompositionen gehört, kam in Leipzig hinzu. Die Verwendung des Doppelzuges im Choral Nr. 6, dessen Stimme in den unteren Zeilen von Bach selbst in typischer Tirarsi-„Tabulatur“ notiert wurde, ist sehr wahrscheinlich. Dieser Choral gehörte nicht zur Weimarer Fassung (wie in den Fällen der frühen Fassungen von BWV 185 und BWV 162 stand in Weimar Gottfried Reiche mit seinen singulären Tirarsi-Instrumenten für BWV 147a nicht zur Verfügung) und erscheint in der Leipziger Erstaufführung 1723 zwei Mal; er wird als Satz Nr. 10 „Jesu bleibet meine Freude“ am Ende wiederholt und gehört (neben der Kantate BWV 140) zu den bekanntesten (Tirarsi-)Werken Johann Sebastian Bachs überhaupt.
BWV 136 – ZWEITE VERBÜRGTE CORNO-STIMME IN BACHS LEIPZIGER KANTATEN

Es ist die zweite schriftlich verbürgte (nach BWV 167 vom 24.6.1723) „Corno“-Stimme in den Werken J.S. Bachs in Leipzig – nicht zu verwechseln mit den vermutlich in Weimar enstandenen Stimmen für „2 Corni da Caccia“ in der Kantate „Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd“, BWV 208 vom 23.3.1713, in „Erstes Brandenburgisches Konzert“, BWV 1046 (nach 1713) und „Sinfonia in F“, BWV 1046a für Weissenfels am 23.2.1713.
Die Stimme des Eingangschores von BWV 136 ist stimmend notiert; das Instrument steht in A = 415 Hertz. Nur der Eingangschor von BWV 67 vom 16.4.1724, dessen originaler Instrumenten-Name „Corna da Tirarsi“ lautet, steht ebenfalls in A (übrigens wie zwei Corno-Stimmen der erhaltenen Kuhnau-Kantaten). Er enthält keine besonderen naturtonfremden Töne, was den obligaten Tromba-Partien in BWV 75 und 76 (den beiden ersten Leipziger Kantaten Bachs vom 30.5. und 6.6.1723 bzw. dem Eingagangschor von BWV 69a (15.8.1723) aus diesen Wochen entspricht.
Aber identisch zu diesen und vielen weiteren Bach-Kantaten gibt es einen abschließende Choral, dessen solistische Corno- oder Tromba-Stimme klingend notiert ist und den Sopran verdoppelt.
BWV 105 – DIE CHROMATISCHE HYMNE

In der ersten Zeile findet sich die Instrumentenbezeichnung „Corno“. Gemeinsam mit den Oboen spielt das Horn sehr viele naturtonfremde Töne. Die Anforderungen an das Corno im Eingangschor von BWV 105 sind erheblich!
Besonders markant werden hier die neuen Möglichkeiten der Tirarsi-Instrumente genutzt: erstmals gibt es lange Passagen mit bis dahin unspielbaren Halbton- und Ganztonschritten, die plötzlich im Verlauf in Sprünge wechseln, die ebenfalls naturtonfremde Töne enthalten. Derartige Anforderungen hat es zuvor für ein Horn nie gegeben – Ausnahme: die Clarino-Stimme in BWV 24, welche möglicherweise ebenfalls mit Horn gespielt wurde (siehe oben) und spektakulärere Sprünge sowie naturtonfremde Töne in allen Registern aufweist.
Derartige Stimmen sind auf einem Corno oder einer Tromba bequem wohl nur mit einem Doppelzug spielbar, auch wenn es in der Stimme von Kopist J.A. Kuhnau am 25.7.1723 nicht schriftlich vermerkt wurde (J.A.Kuhnau hatte übrigens niemals den Begriff „da Tirarsi“ verwendet!). Dafür beglaubigte Bach persönlich einige Stimmen mit „da Tirarsi“ = zum ziehen.
Am folgenden Sonntag, dem 1.8.1723, bezeichnet Bach eigenhändig (!) erstmals eine Stimme erstmals schriftlich mit „da Tirarsi“ – viel mehr noch: er schreibt den Namen sogar komplett aus und benennt zudem noch zwei Besetzungsmöglichkeiten: „Tromba. o Corno da Tirarsi“.
1.8. 1723, BWV 46 – ERSTMALS SCHRIFTLICH: „DA TIRARSI“

Von vornherein schreibt Bach hier die Instrumentenbezeichung vollständig aus – im Gegensatz zu allen anderen Stimmen seiner Kantaten mit offiziell „beglaubigter“ Tirarsi-Beteiligung, die meist von Bachs Kopisten Johann Andreas Kuhnau erstellt wurden und in denen Bach gelegentlich den Zusatz „da Tirarsi“ bei Tirarsi-Instrumenten (BWV 5, 20, 67) hinzufügte, meistens aber wegließ. Vermutlich tat er dies aus Zeitgründen und/oder weil für Gottfried Reiche und Johann Sebastian Bach die schriftliche Bezeichnung vielleicht nebensächlich und vermutlich auch kaum nötig war: sie standen in engem mündlichen Ausstausch.
BWV 46 – UNSPIELBAR?

Oben: Original erhaltenes Aufführungsmaterial der Kantate „Schauet doch und sehet“, BWV 46, vom 1.8.1723, Arie Nr. 3 „Dein Wetter zog sich auf von weitem“ für Bass, „Tromba o Corno da Tirarsi“, zwei Violinen, Viola und Continuo. Die obligate Partie ist typischerweise stimmend notiert – im Gegenstatz zur darunter geschriebenen Solostimmen im Choral Nr.6, die den Sopran verdoppelt und ebenfalls naturtonfremde Töne enthält. Choral-Stimmen von Corno und Tromba als Solo-Instrument wurden immer stimmend geschrieben (Ausnahmen: diererste Leipziger Kantate, 30.5.1723, BWV 75, Cantus Firmus in Nr.8 – und in BWV 14, die nach Reiches Tod 1735 erstaufgeführt wurde).
Bach hat angesichts der Textvorlage der Arie alle Regeister gezogen: „Dein Wetter zog sich auf von weitem, Doch dessen Strahl bricht endlich ein Und muss dir unerträglich sein, Da überhäufte Sünden Der Rach Blitz entzünden Und Dir den Untergang bereiten.„
Die besten heutigen Trompeter und Hornisten der sogenannten „Historisch informierten Aufführungspraxis“, die benennen diese überaus virtuosen Partien (z.B. BWV 24, 46/3, 70, 105, 109, 162) ohne Nutzung von Grifflöchern (was ich ausdrücklich nicht herabwürdigen möchte!), als „unspielbar“. Durch Nutzung eines Doppelzuges mit kurzen Zugwegen zur bequemen Generierung von zusätzlichen (tieferen) Tönen sind akzeptable Aufführungen realisierbar – egal ob mit Tromba oder Corno.
Ein interessantes Detail: Der Text unter den ersten vier Tönen lautet „Dein Wetter zog …“ – das Wort „zog“ entspricht exakt der halben Note h1 im zweiten Takt, die im Verlauf dieser Arie der erste Ton ist, wo das Zugteil ausgezogen werden muß. Vielleicht ein Zufall – ich meine: nein, kein Zufall! Denn im Gegensatz zur „einbeinigen“ Zugtrompete, die für die Vertiefung des h1 „fallengelassen“ wird und erst für das c2 (letzte Viertel im zweiten Takt) zurückgezogen wird, ist es mit einem Tirarsi-Zug nötig zur Generierung des h1 den Doppelzug im Wortsinn „auszuziehen“.
Zwei Wochen später, am 15. August 1723, sind unter Bachs Direktion in einer seiner Kantaten erstmals drei Trompeten besetzt.
TIRARSI-STIMME BWV 69a – NACH REICHES TOD GESTRICHEN

Interessant ist der Kontext dieser Kantate, die zwischen BWV 46 und BWV 77 erstaufgeführt wurde.
Der Blick in die Stimme „Tromba 1“ zeigt nach dem Eingangschor den ursprünglichen, klingend notierten Schlußchoral (im Gegensatz zum Eingangschor, der typischerweise stimmend notiert ist), der für die Wiederaufführung im Jahr 1748 (nach Gottfried Reiches Tod) von J.S. Bach persönlich durchgestrichen wurde. Die erste Fassung enthält im Choral naturtonfremde Töne – vergleichbar mit allen anderen Chorälen, die zu Lebzeiten Gottfried Reiches in den Stimmen auftauchen.
Bach hat den Choral Nr.6, wie oben zu sehen ist, für die spätere Wiederaufführung durchgestrichen und durch einen Choral ersetzt, der im Jahr 1748 – viele Jahre nach Reiches Tod – keine naturtonfremden Töne mehr enthält. Dieser Choral stammt allerdings aus der Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“, BWV 12 vom 30.4.1724. Im Jahr 1724 enthält der Choral in BWV 12 – tiefer stehend – noch naturtonfremde Töne, die der damals zur Verfügung stehende Gottfried Reiche mit der „Tromba da Tirarsi“ elegant ausführen konnte.
Für die Aufführung im Jahr 1748, ohne den 1734 bereits verstorbenen Tirarsi-Spieler Gottfried Reiche, wurde der Choral von Bach in die Clarinlage verlagert damit er in der oberen Lage ohne Spielhilfe (Tirarsi-Zug) in erträglicher Naturton-Qualität präsentiert werden kann.
Ein beachtenswerter Aspekt, auch angesichts der zeitlich benachbarten Tirarsi-Kantaten BWV 105, 46, 77 und 95.
Es war problemlos möglich – und aus Gründen der Praktikabiliät ev. zwangsläufig (?) – , dass Gottfried Reiche bereits im Eingangschor auch den Tirarsi-Adapter nutze, um bei dieser Gelegenheit die etwas schiefen und hier lang auszuhaltenden Naturtöne Nr. 11 (Takte 14, 76, 133, 154) bequem zu spielen. Heutige Barocktrompeter nutzen dafür Grifflöcher – was allgemein akzeptiert ist und an dieser Stelle ausdrücklich nicht abwertet werden soll.
BWV 77 – ORIGINAL „TROMBA DA TIRARSI“

BWV 77 – BACHS IRONIE ODER FEINSINNIGE KUNST?

Oben: Instrumentenbezeichnung „Tromba“ der Originalpartitur, Kantate „Du sollt Gott, deinen Herren, lieben“, BWV 77 Aria Nr. 5 vom 22.8.1723.
Die nachfolgenden Bemerkungen zur Tromba (da-Tirarsi)-Partie in BWV 77 sind vermutlich nur für Kenner der Materie nachvollziehbar.
Zunächst: Die Diskussion über die Verwendung einer Tromba da Tirarsi in der Arie dieser Kantate wurde besonders intensiv geführt. In der Partitur findet sich in der Nr. 1 die originale Bezeichnung „Tromba da Tirarsi“ – über der Aria Nr. 5 aber lediglich „Tromba“, obwohl hier ebenfalls naturtonfremde Töne verlangt werden.
Sir John Eliot Gardiner z.B. meint (siehe: John Eliot Gardiner „Bach. Musik für die Himmelsburg“, München 2013, S.547-548) hier sei angesichts des Textes des Alt „Ach, es bleibt in meiner Liebe Lauter Unvollkommenheit! Hab ich oftmals gleich den Willen, Was Gott saget, zu erfüllen, Fehlt mirs doch an Möglichkeit.“ die obligate Trompete ohne Spielhilfe aufgetreten. Mit ihrer eingeschränkten Intonation der Naturtöne Nr. 7, 11, 13 und 14 (b1, f2/fis2, gis2/a2) und mit zusätzlichen Tönen cis2 und es2 sei sie hier bewußt nicht als Tirarsi-Instrument eingestzt worden um die „Unvollkommenheit“ der Naturtöne radikal realistisch auszudrücken, während – so Gardiner – der Textpassage „Hab ich oftmals gleich den Willen“ im weiteren Verlauf der Arie einer 10-taktigen Passage der Tromba zugeordnet ist, wo die Tromba problemlos – so Gadiner – den „Willen“ ausdrücken kann, weil sie frei von unvollkommenen Tönen sei: „ein zehn Takte langes Solo von unaussprechlicher Schönheit … , das ausschließlich auf die diatonischen Töne der Naturtrompete zurückgreift und ohne ein einziges Vorzeichen auskommt: wie ein aus einer Wolkenbank auftauchendes, in der Sonne glitzerndes Flugzeug. Unvermittelt wird uns ein kurzer Blick auf das herrliche Reich Gottes gewährt„.
Untersucht man aber intensiv die tatsächliche Verteilung von Text und Tonmaterial in dieser Arie, hält die Realismus-These der Überprüfung nicht stand: auch in der Passage der „Göttlichen Schönheit“ muß sich die Trompete mit der Unvollkommenheit der Naturtöne 11 und 13 auseinandersetzen.
Ausgeblendet wird in dieser Argumentation zudem der Kontext der in jenen Wochen des Sommers 1723 (und den anschließenden Jahren) komponierten vielen weiteren Tirarsi-Kantaten, die in allen Lagen naturtonfremde Töne enthalten. Besonderes Augenmerk sei nochmals auf BWV 46, Nr. 3 gelenkt: hier war Gelegenheit für Realismus pur in der obligaten Stimme der Gewitterszene. Bach kostet den Text in allen Lagen kuntsvoll, durchgeistigt und feinsinnig aus. Ein weiteres Argument zur Untermauerung der „Unvollkommenheits-These“ in BWV 77 war, dass Bach in der Nr. 1 „da Tirarsi“ verlangt, weil dort zusätzliche Tirarsi-Töne lediglich in der unteren Lage gefordert sind, dagegen die Nr. 5 bewußt mit „Tromba“ bezeichnet sei, weil dort nur naturtonfremde Töne in der oberen Lage stattfinden und der Trompeter hier mit Hilfe der Treibtechnik korrigieren konnte.
Eine weiteres, ganz und gar fachliches Argument, für Leien kaum nachvollziehbar: die hier im Eingangschor benötigte Auszugslänge des Doppelzuges in der unteren Lage für die Töne d1, a1, b1 und h1 entspricht der Zugläge in der oberen „Etage“ oberhalb c2 zur Korrektur der schiefen Naturtöne f1, fis2 und h2 (sowie zum Spiel des zusätzlichen, naturtonfremden, „unvollkommenen“ cis2 in der Aria. Es gibt also keinen technischen Grund, dass die geforderte „Tromba da Tirarsi“ nur im Eingangschor zum Einsatz kam und hier lediglich für die tiefe Lage verwendet wurde. Für eine künstliche Trennung zwischen hoher Lage (mit getrieben unreinen Naturtönen bzw. getriebenen zusätzlichen Halbtönen) einerseits und per Zugbewegung erzeugten zusätzlichen (naturtonfremden) Tönen der tiefen Lage gibt es keinen überzeugenden Beleg. Beweis für die Nutzung der Tirarsi-Technik in allen Lagen ist die von Bach geschriebene Stimme für „Corno da Triarsi“ in BWV 67, wo im Eingangschor das Zug-Horn in verschiedenen Tonarten und Lagen naturtonfremde Töne zu spielen hat und, explizit von Bach beglaubigt, ein Tirarsi-Instrument gefordert ist.
Im Umkehrschluß würde es zudem bedeuten, dass Bachs Blechbläser und insbesondere Gottfried Reiche, in allen Kantaten nicht in der Lage gewesen wären, die vielen unvollkommenen Töne vollkommen zu spielen.
Man muß sich klarmachen, dass die besten Musiker hochqualifizierte Könner waren, die sich, ebenbürtig zu den Höchsteistungen der sonstigen Handwerkskunst dieser Zeit, jederzeit sehen (hören) lassen konnten. Gottfried Reiche spielte zweifellos in dieser Liga: geehrt und wertgeschätzt, was das wenige Jahre später entstandene Bild, welches der Stadtrat in Auftrag gab, eindruckvoll beweist.
Es irritiert wenn heutige, vielfach bewährte Weltklassetrompeter und Weltklassehornisten die Leistungsfähigkeit des Ausnahmemusikers Gottfried Reiche bezweifeln, indem sie (in meinen Augen: unbewußt) indirekt meinen, derartige Partien seinen für ihn „unspielbar“ gewesen (BWV 24, 46/3, 77/5, 95/1, 105/3 oder 109/1), indem sie eine gewollte „Unvollkommenheit“ (in BWV 77/5) herausstreichen.
Meiner Ansicht nach hat Bach in der Aria Nr.5 von BWV 77 schlicht vergessen den Zusatz „da Tirarsi“ zu vermerken – ohne zu ahnen, dass darüber knapp 300 Jahre später trefflich gestritten wird.
Einen beachtenswerten Beitrag leistete der renommierte Barocktrompeter Don L. Smithers (geb. 1933), der in einer Aufnahme unter Gustav Leonhard in der obligaten Arie die naturtonfremden Töne allesamt absolut perfekt mit Hilfe des Treibens der Naturtöne intonierte: ohne jegliche technische Hilfmittel (Löcher), was mit ausdrücklichem Respekt und vorbehaltloser Wertschätzung anerkannt werden muß! Siehe auch BWV 103, 22.4.1725, Aria Nr. 3 für Tenor, obligate Tromba und b.c., wo Smithers angesichts des Textes „betrübte Stimmen“ und der Forderung, hier den 10. Naturton der Tromba um einen Halbton zu vermindern, von Bachs Sinn für Ironie spricht.
Die Forschungsgemeinde kann mit Gelassenheit die Fakten und die unterschiedlichen Meinungen dazu zur Kenntnis nehmen: keine Version der Ausführung dieser Kantaten (ob mit Tirarsi-Doppelzug, mit herkömmlicher „einbeiniger“ Zugtrompete, Treibtechnik) kann 100% bewiesen werden.
Wenn wir nicht dogmatisch sein wollen, so könnte also auch das historisch verbürgte „Treiben“ der unreinen Naturtöne auf Corno und Tromba angesichts der beachtenswerten Leistungen der „Lochlostrompeter“ Don L. Smithers, Jean-François Madeuf, Julian Zimmermann oder von Hornisten wie Stephan Katte ein Aspekt sein, der die Kombination eines Tirarsi-Adapters mit der Treibtechnik an gewissen Stellen in einem neuen Licht erscheinen läßt. Möglicherweise sind manche Tirarsi-Partien mit besonders vortuosen Stellen (z.B. BWV 46/3, Takte 49-53, BWV 77/5, Takte 11+12, 24+25, 30, 35-37, 57+58) durch Kombination von Tirarsi- und Treibtechnik noch bequemer darstellbar.
Vielleicht war genau DAS die Praxis?
Ungeachtet dessen bleibt die Frage unbeantwortet, wie die Corno-Stimmen in BWV 46, 95, 105, 109 und 162 OHNE technische Hilfsmittel (Züge, Löcher, Stopftechnik etc.) bewerkstelligt wurden, wenn die Stichhaltigkeit der Tirarsi-Thesen abgelehnt werden. Ein ausschließliches Treiben der zusätzlichen Töne dieser Stimmen ist nach heutigen Praxiserfahrungen nicht vollumfänglich zielführend. Es bleibt also viel Raum für Spektlation, Vermutungen und wertschätzenden Meinungsstreit.
Um zu zeigen, dass Gottfried Reiche mit seinen Bemühungen um die Erweiterung des Tonumfangs nicht alleine war und nach ihm die Entwicklung weiter voranschritt, sei an dieser Stelle der interessanter Eintrag von Ernst Ludwig Gerber (1746- 1819) in “ sein Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler, welches Nachrichten von dem Leben und den Werken musikalischer Schriftsteller, berühmter Komponisten, Sänger, Meister auf Instrumenten, kunstvoller Dilettanten, Musikverleger, auch Orgel- und Instrumentenmacher, älterer und neuerer Zeit, aus allen Nationen enthält“. Leipzig 1812–1814), Seite 642 und 643 über den „Ratsmusikus und Thürmer an St. Katharinen zu Hamburg“, Johann Heinrich Cario, geboren ca. 1736, der eine „Inventionstrompete“ nutzte, mit der er offenbar viele Töne außerhalb der Naturtonreihe spielen konnte:
(Dank an Dr. Thomas Hasselbeck, Frankfurt/M., für den Hinweis auf diese Information)


BWV 119

„Preise, Jerusalem, den Herrn“, BWV 119 vom 30.8.1723.
Diese Ratswahlkantate ist im Eingangschor und im Rezitaiv Nr. 4 mit „Tromba 1“, „Tromba 2.“, „Tromba 3.“ und „Tromba 4″ besetzt. Die Besetzung des Schlußchorals ist in der Partitur nicht eingetragen. Wir können nur spekulieren – leider existieren keine Stimmen.
Denkbar ist auf Grund des Gesamtkontextes der benachbarten Tiirarsi-Kantaten, dass auch in diesem Fall vom Kopisten in der 1. Tromba-Stimme der Choral klingend notiert und demnach mit „Tromba da Tirarsi“ gespielt wurde. Damit konnten die langen Töne des Soprans, wie in so vielen anderen Kantaten, mit perfekter Intonation und ausbalanciertem Klang der Tromba verdoppelt werden. Dies betrifft insbesondere das zwei Mal besonders lang ausgehaltene h1 der Fermaten-Takte 8 und 17. Freilich wäre dies auch an dieser Stelle mit einer normalen Zugtrompete möglich – aber nicht logisch: wer nutzt schon ein limitiertes Werkzeug (die herkömmliche Zugtrompete mit Einzelzug, bei dem das gesamte Instrument vergleichsweise umständlich bewegt wird), wenn ein wesentlich besseres Werkzeug (Doppelzug mit 50% kürzeren Zugwegen = Tromba da Tirarsi) zur Verfügung steht? Der Verzicht von Bach auf eine Besetzung des Chorals in dieser Kantate mit Tromba (da Tirarsi) wäre angesichts der benachbarten Kantaten dieser Zeit relativ einmalig – ein weiteres Indiz, dass auch in dieser Kantate zumindest im Schlußchoral Reiches bereits in vorherigen Kantatenaufführungen bewährte „Tromba da Tirarsi“ zu Einsatz kam.
BWV 95: FÜR CORNO (DA TIRARSI) – NICHT FÜR CORNETTO.

Diese Corno-Stimme ist ebenfalls eine der vielen Partien für Corno – (wie z.B. BWV 109, vom 17.10.1723) welche zu der Grauzone von Horn-Paritien gehören, die von Bach nicht zusätzlich hinter dem Namen des Instrumentes mit „da Tirarsi“ gekennzeichnet wurden, die aber den oben genannten Kriterien für Tirarsi-Instrumente entspricht. Oft wird diese Kantate mit Zink (Cornetto) besetzt, was aber nicht den Intentionen Bachs entspricht. Er hat nachweislich ausdrücklich zwischen den verschiedenen Klängen der Blasinstrumente unterschieden und zudem die drei Instrumentennamen „Cornetto“, „Trombona“ und „Tromba“ immer unmissverständlich ohne Abkürzungen ausgeschrieben. Außerdem verwendet Bach den Cornetto ohne Ausnahme zusammen mit drei Posaunen. Nur BWV 133, dessen Stimme von W.F. Bach kopiert wurde, fällt aus dem Rahmen. Die solistische „Cornetto“-Stimme dieser Kantate hat keine Posaunen-Kollegen, weshalb zu vermuten ist, dass sich W.F.Bach hier geirrt hat und diese Cornetto-Stimme eigentlich für Corno (da Tirarsi) gedacht war.
Interessant an der Stimme von BWV 95 ist der in der ersten Zeile über dem lang ausgehaltenen e2 die Dynamikbezeichnung „piano“. Hier leise zu spielen ergibt nur einen Sinn, wenn vorher laut gespielt wird, was aber nicht extra aufgeschrieben wurde – es war demnach offenbar gelebte Praxis zunächst immer laut zu beginnen, ohne dass dies extra benannt wurde. Über diesen Sachverhalt wird heutzutage nicht diskutiert. Niemand braucht dafür einen schriftlichen „Beweis“: allen in der Praxis Beteiligten ist klar, dass vor einem „piano“ laut gespielt wurde.
Genau so verhielt es sich bei den vielen unbezeichneten Tirarsi-Partien, nur gelegentlich mit „da Tirarsi“ markiert wurden.
SPEZIALFALL BWV 48

Wichtig sind die beiden folgenden Abbildungen:


Weil die Musiker aus den Stimmen spielten, geben die Stimmen vermutlich den letzten Stand der Aufführung wieder und sind der Partitur vorzuziehen. Im Kontext der in diesen Wochen ebenfalls im Herbst 1723 aufgeführten Kantaten BWV 95 und 162 ist die Nutzung eines „Corno“ (da Tirarsi) auch in BWV 48 relativ wahrscheinlich; auch weil es eher eine typische Corno(da Tirarsi)-Stimme ist. Die Stimmenbezeichnung „Clarino“ (geschrieben von Johann Andreas Kuhnau) schließt dies jedenfalls nicht aus – siehe BWV 24 oder insbesondere BWV 167.
Diese Stimme entstand eine Woche vor Kantate BWV 162, über deren Corno-Stimme der vollständigen Instrumenten-Name „Corno. da Tirarsi“ von Bach geschrieben wurde – siehe unten.
Die Blechbläser-Stimme in BWV 48 wurde von Bach (J.A.Kuhnau schrieb niemals „da Tirarsi“) nicht explizit mit „da Tirarsi“ markiert, gehört aber ebenfalls zur Gruppe der Kantaten, die den hier oft aufgeführten Kriterien für „Tromba da Tirarsi“ oder „Corno da Tirarsi“ entsprechen.
Die „Unordnung“ und für uns scheinbar nicht vorhandene Systhematik der vielen Bezeichnungen der Horn-Instrumente (bemerkenswerte viele Möglichkeiten: „Corno“, „Cornio“, „Corn.“, „Cornu“, „Corno da Caccia“, „Cornu da Caccia“, „Corno per force“, „Corno par force“, , „Clarino“, „Cornu du chass“ und „Corno da Tirarsi“ – später einmal, in BWV 118, sogar „Lituus“) – , läßt sich auch bei anderen (Aufführungs-)Hinweisen in den Stimmen aller Instrumente beobachten: nur an wenigen Stellen wurden – aus Zeitgründen und weil es so üblich war – von Bach (oder den Kopisten) Striche, Phrasierungsbögen, Artikulationszeichen und dynamische Anweisungen eingetragen.
BWV 162 – EINE VON BACH BEGLAUBIGTE TIRARSI-STIMME

Die erste Fassung dieser Kantate von 1715 (oder 1716) ist in Weimar ohne Horn besetzt. Gottfried Reiche stand mit seinen einzigartigen Fähigkeiten und Instrumenten in Weimar 1715/16 nicht zur Verfügung. Die Horn-Stimme wurde für die Leipziger Aufführung auf der Rückseite der Weimarer 1.Violinen-Stimme notiert.
Dass Bach in Leipzig für diese Partie die zusätzliche Stimme selber notierte und sie zudem ausdrücklich mit „Corno . da Tirarsi“ bezeichnete ist einer der stärksten Indizien für die Stichhaltigkeit der Tirarsi-Thesen, die hier fast Beweiskraft hat und somit für sich steht. Den identischen Sachverhalt konstatieren wir bereits in BWV 185 am 20.6.1723: die Erstaufführung auch dieser Kantate fand in Weimar noch ohne Tirarsi-Instrument statt.
Die Stimme ist im Stil teilweise vergleichbar mit der Tromba-Stimme in BWV 70 vom 21.11.1723, in der Bach ebenfalls teilweise mit gebrochenen Akkorden arbeitet.
BWV 109 – EINE WOCHE NACH BWV 162

Die für die damalige Zeit modische Horn-Name „Corno du Chasse“ ist ein deutlicher Hinweis, dass derartigen Partien mit naturtonfremden Tönen NICHT mit einen Cornetto (Zink) besetzt wurden. Die „Cornetto“-These ist u.a. auch für die Kantate „Christus der ist mein Leben“, BWV 95, vom 12.10.1723 geäußert worden, obwohl der Instrumentenname „Corno.“ absolut eindeutig keinen „Cornetto“ meint – so leid es mir tut – denn ich schreibe dies als professionell tätiger Cornetto-Spieler, der das Instrument u.a. in Basel (Bruce Dickey), Leipzig (Arno Paduch) und Bremen (Gebhard David) studiert hat. Auch andere Horn-Abkürzungen wie „Cornio“, „Corne“ oder „Corn.“ sind als vermeindliches Argument für die (in meinen Augen: haltlose) „Corn(etto)“-These herangezogen worden.
Es ist wichtig, alle diese Partien im Kontext zu betrachten. Untersucht man diese Zusammenhänge, wird schnell klar, dass die Corn(etto)-These verworfen werden muß, denn die Instrumentenbezeichnung „Cornetto“ wurde bei Bach niemals abgekürzt. Hinzu kommt, dass die Cornetto-Stimmen fast immer zusammen mit Posaunen auftreten, was bei den Corno-Stimmen nie der Fall ist.
Ausnahme Nr.1: Kantate „Ich freue mich in dir“, BWV 133 vom 27.12.1724. Der Name des Instrumentes lautet eindeutig und ungekürzt „Cornetto“. Weil der Zink alleine auftritt stellt sich möglicherweise die Frage: ist hier ein Corno gemeint? Handelt es sich um einen Irrtum des Kopisten W.F.Bach?
Ausnahme Nr. 2: eine Cornetto-Solostimme in einer Leipziger Kantate gibt es am 25.6.1724 in BWV 135 „Ach Herr mich armen Sünder“ – Nr. 1 mit „Trombona e bassi „und „Cornetto“ in Nr.6. – allerdings „aus den Stimmen der Partitur geschrieben. Von G.G.Wach. Leipzig im Februar 1803“. Es gibt keinen Hinweis zur Besetzung aus der autographen Partitur.
Kantaten mit CORNETTO (Zink):
24.4.1707 (?) – BWV 4 „Christ lag in Todesbanden“ – Cornetto
29.8.1723 – BWV 25 „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe“ – Cornetto
25.12.1723 – BWV 239 „Sanctus“ – Cornett.
27.12.1723 – BWV 68 „Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget“ – Cornetto (Nr. 5)
20.2.1724 – BWV 23 „Du wahrer Gott und Davids Sohn“ – Cornetto (WA vom 7.2.1723)
?? 25.6.1724 – BWV 135 „Ach Herr mich armen Sünder“ – (Nr. 1: Trombona e bassi) Nr. 6: Cornetto
13.8.1724 – BWV 101 „Nimm von uns, Herr, du treuer Gott“ – Cornetto
26.12.1724 – BWV 121 „Christum wir sollen loben schon“ – Cornetto 3 Trombon.
? 27.12.1724 – BWV 133 „Ich freue mich in dir“ – Cornetto (eigentlich Corno ?) – Irrtum des Kopisten W.F.B.?
21.5.1725 – BWV 68 „Also hat Gott die Welt geliebt“ – Corne. (Nr. 1 )/ Cornetto (Nr. 5)
Beachtenswert ist der Unterschied zwischen Horn und Zink in dieser Kantate: ausgeschrieben als „Corno“ und „Cornetto“!
30.12.1725 – BWV 28 „Gottlob! nun geht das Jahr zu Ende“ – 1 Cornetto 3 Tromboni
um 1736/37 – BWV 118 Motette „O Jesu Christ, meins Lebens Licht“ – „J.J. Motetto a 4 Voci. due Litui. 1 Cornet. 3 Trombone.“
BWV 89 GEHÖRT ZU DEN TIRARSI-STIMMEN

„Was soll ich aus dir machen, Ephraim“, BWV 89, vom 24.10.1723.
Hier greifen erneut die Tirarsi-Kriterien. Die modische Bezeichnung „Corne“ in Verbindung mit „du chaße“ (Jagdhorn) ist ein definitiver Beweis GEGEN die irrtümliche Vermutung, die Abkürzung „Corne“ steht in vielen Kantaten für „Cornetto“.
BWV 60 – NICHT mit Cornetto sondern mit „Corno“!

Diese Kantate ist typisch für das Corno da Tirarsi – und hat zwei Besonderheiten: die „Corno“-Stimme ist im Chorton notiert und sie verdoppelt den Alt; was zur Behauptung führte, diese Stimme sei für Cornetto. Bekanntlich bin ich auch ein (in Basel bei Bruce Dickey und in Bremen bei Gebhard David ausgebildet) Cornetto-Spieler und praktizierender Profi – trotzdem halte ich diese Meinung für unbegründet. Denn typischerweise gibt es keine Kantaten Bachs, in denen ein solistischer Zink (Cornetto) erscheint. Wenn ein „Cornetto“ oder „Cornettino“ gefordert wird, wird das Instrument immer als „Cornetto“, „Cornett“ oder „Cornettino“ notiert und niemals als „Corno.“ oder ähnlich abgekürzt – der Zink spielt ausnahmslos immer mit drei Posaunen gemeinsam zu den Sängern (siehe auch BWV 4, 23, 25, 28, 64, 68, 101, 121, 133 und 135).
BWV 70 – ES FEHLT NUR BACHS ZUSATZ „DA TIRARSI“

Die Stimme enthält viele Sprünge und zusätzlich naturtonfremde Töne in der hohen Lage sowie die vielen „unreinen“ Naturtöne Nr. 7, 11, 13 und 14, die im schnellen Tempo mit der Treibtechnik der Hoftrompeter extrem schwer korrigierbar sind/waren – aber mit einem Doppelzug, dem Tirarsi-Adapter. Die Stimme ist auch interessant in Bezug auf die Diskussion zur Tromba da Tirarsi-Stimme in BWV 77/5 (siehe oben): in BWV 70/1 gibt es ebenfalls in allen Lagen zusätzliche naturtonfremde Töne.
Im Gegensatz zu BWV 5, BWV 20 (siehe oben) oder BWV 67 hat Bach während der Revision des Aufführungsmaterials hier nicht den Zusatz „da Tirarsi“ rechts neben die Bezeichnung „Tromba“ hinzugefügt (vermutlich aus Zeitgründen und, wie oben bereits oft erwähnt, weil diese Frage zwischen Reiche und Bach sowieso geklärt war), obwohl diese Partie den Kriterien für den Einsatz der Tirarsi-Instrumente entspricht.

MAGNIFICAT: MIT TIRARSI-STIMME?

Die Spekulation über die Nutzung eines Tirarsi-Instrumentes in dieser Nummer ist gut begründet: in der Nr. 10 der Erstfassung des Magnificat in Es, „Suscepit Israel“, gibt es für die 1. Tromba (in den oberen Zeilen der Systeme mit Violinenschlüssel) einen zauberhaften Cantus Firmus mit einem über neun Takte ausgehaltenen, quasi „ewig“ ertönenden a1. Es scheint kaum vorstellbar, dass diese Stimme und insbesondere dieser lange naturtonfremde Ton ohne Zug gespielt wurde. Für die um 1735 ?? nach Reiches Tod erstaufgeführte D-Dur-Fassung wandert diese Stimme in die Oboen.
BWV 40: ZWEI HÖRNER IM CHOR + EINE TIRARSI-STIMME IM CHORAL

Die stimmend notierten Partien im Chor 1 und der Aria Nr.7 sind für zwei Hörner in F konzipiert. Die „Tirarsi-Verdächtigen“ Choräle Nr. 3, 6 und 8 sind Tirarsi-Typisch für EIN klingend notiertes Horn notiert und verdoppeln den Sopran mit naturtonfremden Tönen.
Weitere Beispiele dieser Konstellation sind BWV 65 (6.1.1725 – für“2 Chore du Chasse“ in C im Eingangschor und Aria Nr. 6 + ein klingend notiertes Tirarsi-Instrument im Choral Nr. 7) und BWV 83 (2.2.1724 – für „2 Corni“ in G und ein klingend notiertes Tirarsi-Instrument im Choral Nr. 5).
BWV 83: ZWEI HÖRNER IM CHOR + EINE TIRARSI-STIMME IM CHORAL

Diese Kantate ist in der Aria Nr. 1 mit zwei Hörnern („2 Corni“) besetzt und stimmend = transponierend notiert, was eine Grundstimmung des Instrumentes in F nach sich zieht.
Die naturtonfremden und klingend notierten Töne des Schlußchorals, welche in Tirarsi-Manier den Sopran verdoppeln, finden sich nur in der ersten Stimme notiert: sie sind tirarsi-typisch für EIN HORN vorgesehen. Dieser Choral wurde demnach mutmaßlich mit einem „Corno da Tirarsi“ ausführt.
Weitere Beispiele für ZWEI HÖRNER mit stimmend notierten Stimmen OHNE naturtonfremde Töne, die einen oder mehrere Choräle enthalten, die klingend notiert wurden und naturtonfremde Töne enthalten, sind die Kantaten BWV 40 (26.12. 1723) und BWV 65 (6.1.1724).
Gegenbeispiele für Stimmen, in denen beide Hörner auch im Choral vorkommen und dort OHNE naturtonfremde Töne auskommen (und deshalb beide durchgehend transponierend notiert wurden) sind die Kantaten BWV 1, 52, 79, 91, 112, 128 , 195, 205, 251 und 251.
BWV 67 – ORIGINAL VON BACH: „DA TIRARSI“

Die Stimme wurde ebenfalls von J.A.Kuhnau geschrieben. Bach hat hier, wie in BWV 5 und 20, hinter Kuhnaus Bezeichnung „Corno.“ eigenhändig den Zusatz „da Tirarsi“ hinter den Instrumentennamen „gequetscht“. Vermutlich um die Stimme auf den ersten Blick als Tirarsi-Stimme erkennbar zu machen. Im Fall dieser Stimme könnte der Spieler bei einem Esten Blick über die Stimme zunächst auf Grund der ersten Zeilen davon ausgehen, es sei keine Tirarsi-Partie. Bach wollte sicher gehen und hat deshalb hier den Begriff „da Tirarsi“ (= zum ziehen) hinzugefügt und so quasi Nägel mit Köpfen gemacht.
BWV 67 ist, neben der gewichtigen schriftlichen Beglaubigung durch Bach höchstpersönlich, eine typische Tirarsi-Partie: die Stimme ist für ein solistisches Corno/Horn (nicht für zwei Corni/Hörner) konzipiert, enthält naturtonfremde Töne, ist in den beiden Chorälen klingend notiert und verdoppelt dort den Sopran. Der Eingangschor ist stimmend notiert und sehr virtuos, nutzt die gewonnenen melodischen Möglichkeiten auf mehreren (naturtonfremden!) Tonstufen. Bach konnte auf Grund der Nutzung des Doppelzugs ohne Rücksicht auf die Beschränkung der Naturtonreihe komponieren.
Positiver Nebeneffekt des posaunanartigen Doppelzuges: es konnten auch die unreinen Naturtöne Nr. 7, 11, 13 und 14 mit kurzen Bewegungen blitzschell korrigiert und zugleich das auf Naturinstrumenten latent vorhandene intonatorische Auseinanderdriften zwischen hoher und tiefer Lage ausgeglichen werden.
Es gab/gibt nicht nur die Möglichkeit, jeden Naturton um bis mindestens zwei Halbtöne zu vertiefen, sondern den Doppelzug in die entgegengesetzte (Einzugs-)Richtung zu nutzen, insbesondere bei der Korrektur des 11. Naturtons (f2) zu einem fis2 und des 13. Naturtons – vorausgesetzt das Instrument ist etwas kleiner gebaut und wird leicht „zu hoch“ eingestimmt.
BWV 12 – MIT NATURTONFREMDEN TÖNEN, KLINGEND NOTIERT

Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“, BWV 12, vom 0.4.1724 – mit naturtonfremden Tönen, klingend notiert.
BWV 20 – ORIGINAL „DA TIRARSI“

Das originale Aufführungsmaterial, aus dem Bachs 1. Trompeter Gottfried Reiche spielte, wurde vom Hauptkopisten Johann Andreas Kuhnau aus Bachs Kompositionspartitur abgeschrieben. Bach hat in die Stimme, wie in BWV 5 und BWV 67, hinter Kuhnaus Instrumentenbezeichnung „Tromba“, eigenhändig den Zusatz „da Tirarsi“ geschrieben.
Die obligate Arie ist stimmend notiert – die beiden Choräle (Nr. 1 und 7), die den Sopran verdoppeln, sind klingend aufgeschrieben. Theoretisch hätte ein Naturhorn in F die Choräle ausführen können – aber Bach korrigiert in der Revision unmissverständlich mit dem Begriff „da Tirarsi“ (= zum ziehen) das Aufführungsmaterial und beglaubigt somit die Tirarsi-Thesen.

Die Naturtonreihe wird nicht nur in den beiden Chorälen in der tiefen Lage erweitert, sondern auch in der höheren Lage der Arie (siehe auch BWV 77).
So läßt sich mit den Oboen gemeinsam (die Tromba ist nicht allein!) beispielweise eine perfekt gestimmte große Terz (h1) des G-Dur-Dreiklangmotivs im Takt 17, im Takt 18 ebenfalls eine perfekte große Terz (fis2) und Quinte (a2) des D-Dur-Dreiklangmotivs, im Takt 22 ein sauberes f2 spielen, welches die Intonation des G7-Akordes brillianter klingen läßt.
BWV 10 – KLASSISCHE TIRARSI-PARTIE

Vermeintlich „fehlt“ hier lediglich der Zusatz „da tirarsi“ – wie er wenige Wochen zuvor in der Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“, BWV 20, am 11.6.1724, notiert wurde.
Aber bereits mit einem flüchtigen ersten Blick über die Stimme erschließt sich für den Interpreten sofort, dass in der Partie viele lange Töne außerhalb der Naturtonreihe gefordert sind – die Bezeichnung „da Tirarsi“ ist nicht nötig: der Sachverhalt ist eindeutig! Diese Tromba-Stimme verkörpert also den klassischen Tirarsi-Stil mit allen typischen Tirarsi-Merkmalen. Zu den Tirarsi-Merkmalen gehörte offenbar auch, dass es angesichts des Zeitdrucks der wöchtenlichen Kantaten-Produktion (Komposition – Erstellung des Aufführungsmaterials – Proben – Aufführungen) nicht nötig und möglich war, alle eindeutigen Tirarsi-Partien als solche mit „da Tirarsi“ zu benennen. Es sind die gleichen Rahmenbedingungen, wie wir sie bei Artikulationsbezeichnungen und dynamischen Eintragungen kennen und akzeptieren.
Die weitere Aufführungsgeschichte der Kantate spricht für die Tirarsi-These. Anläßlich der Wiederaufführung um 1740-1747 (viele Jahre nach Gottfried Reiches Tod) findet sich der autographe Nachtrag des Cantus firmus in den Oboen-Stimmen.
BWV 124

Der Begriff „da Caccia“ ist wie „par Force“ oder „du Chasse“ eine zeittypischer, „modischer“ zusätzlicher Name für Horn-Instrumente, dessen Gebrauch bei Bach keiner Sythematik unterliegt.
Den Kriterien für Tirarsi-Instrumente folgend ist die Einordnung auch dieser Stimme in den „Tirarsi“-Bereich naheliegend. Die modischen Corno-Namen widerlegen sehr klar die These, derartige Corno-Stimmen seien in Wirklichkeit mit Cornetto gespielt worden.
BWV 178

Die Corno-Stimme enthält naturtonfremde Töne, ist klingend notiert, verdoppelt den Sopran – und ist dennoch nicht mit dem Zusatz „da Tirarsi“ von Bach ergänzt worden, gehört aber zweifelsfrei zur Gruppe der Tirarsi-Kantaten.
BWV 78

Wie bei den anderen Beispielen, ist auch diese Stimme auf den ersten Blick als eine Tirarsi-Stimme erkennbar ohne dass es extra nötig gewesen wäre, sie schriftlich als Tirarsi-Stimme zu benennen – und somit ein weiterer Baustein zur Untermauerung der Stichhaltigkeit der Tirarsi-Hypothesen.
BWV 99: „CORNE.“ BEDEUTET NICHT „CORNETTO“

Die Übereinstimmung mit den anderen Corno-Stimmen der umliegenden Monate, die klingende Notation, das Fehlen von Posaunenstimmen: der gesamte Kontext zeigt, dass diese Stimme zur Gruppe der Tirarsi-Kantaten zählt.
Reima Ermans These, in: „Zum Problem der Besetzungsangabe ´Corno da Tirarsi`bei Bach“, Konferenzbericht Leipzig (1985), S. 343 – 349, es könne sich bei der Instrumentenbezeichnung „Corne.“ in BWV 99 um die Abkürzung für „Corne(tt)o“ handeln. wurde bereits anhand vieler anderer Kantaten klar widerlegt.
Kantate „Liebster Gott, wann werd ich sterben?“, BWV 8, Erstaufführung am 24.9.1724. Instrumentenname in der Stimme: „Corno“ . Ohne Horn während der Wiederaufführungen nach G.Reiches Tod in der zweiten Hälfte der 1730er Jahre und 1744-47.
BWV 114

BWV 96 – NACH REICHES TOD UMBESETZT

Sehr interessant ist die Umbesetzung der Corno-Stimme in „Trombone“ in Satz 1 bei einer Wiederaufführung 1747 – ein gewichtiges Indiz dafür, dass nach Gottfried Reiches Tod (1734) kein Leipziger Stadtpfeiffer mehr ein Tirarsi-Instrument beherrschte und die Tirarsi-Kunst nach und nach in Vergessenheit geriet.
Diese Stimme ist zudem ein deutlicher Beweis, dass Corno-Stimmen vor Reiches Tod nicht ersatzweise mit einer Posaune gespielt wurden. Als Indiz dafür sind auch die unterschiedlichen Schlüssel für „Corno“ und „Trombona“ an den Zeilenanfängen zu werten.
Ein weiteres Beispiel für unterschiedliche Schlüssel für „Corno“ und „Trombona“ ist die Stimme von BWV 3 vom 14.1.1725 (siehe weiter unten).
BWV 5 – ORIGINAL „DA TIRARSI“

Auch hier kann festgestellt werden: der Choral mit den vielen naturtonfremden Tönen ist klingend notiert und verdoppelt den Sopran, während die typischerweise stimmend notierte Aria dieser obligaten Tromba-Partie auf naturtonfremde Töne verzichtet, dafür in ihr einige zu korrigierende unvollkommene Naturtöne vorkommen, deren Ausführung für den ausführenden Tirarsi-Spieler mit schnellen Bewegungen in schnellen Passagen in einwandfreier Intonation und perfektem Klang möglich ist.
Dadurch sind die Blechblasinstrumente Corno (da Tirarsi) und Tromba (da Tirarsi) nicht mehr im Nachteil gegenüber den anderen Blasinstrumenten Oboe, Flöte, Zink, Posaune und Fagott sondern auf höchst bequeme Art und Weise ebenbürtig.
Heutzutage wird dieses Problem mit unhistorischen Grifflöchern gelöst. Viele der heutigen Ausführenden glauben irrtümlich und oft in Unkenntnis relevanter Fakten, Grifflöcher seien damals die übliche Praxis gewesen.
Die hier im Choral benötigte Zuglänge in der unteren Lage für die Töne a1 und b1 entspricht etwa der Zugläge in der oberen „Etage“ oberhalb c2 zur Korektur der schiefen Naturtöne f1, fis2, a2 und b2. Es gibt demnach in der Diskussion über BWV 77 (siehe oben) keinen Grund für eine künstliche Trennung in den Bereich des hohen Registers, welcher getriebene unreine Naturtöne bzw. getriebene Halbtöne enthält – und per Zugbewegung erzeugten zusätzlichen (naturtonfremden) Tönen der tiefen Lage.
BWV 26

Sie gehört ebenfalls zur erstaunlich großen Gruppe der „Tirarsi“-Kantaten mit naturtonfremden Tönen (ohne dass dies schriftlich von J.S. Bach mit „da Tirarsi“ bezeichnet wurde) und erfüllt das nachfolgende künstlerische Konzept von J.S. Bach, nämlich den gering besetzten Sopran zu verdoppeln, zu stützen und zu „färben“; dem Klang der Stimme also einen zusätzlichen Schmelz zu verleihen (was die heutigen Soprane mit großer Dankbarkeit quittieren!) um die Hörbarkeit in der Thomas- oder Nikolaikirche zu verbessern.
BWV 116 – BACH STREICHT „TROMBA“ UND LÄSST „CORNO“ STEHEN!

Alle Fakten dieser Stimme passen, um sie zu den Tirarsi-Kantaten zu zählen: sie ist die klingend notierte Stimme eines Solohorns mit naturtonfremden Tönen, die den gering besetzten Sopran verdoppelt und somit klanglich stützt.
Außerordentlich interessant an dieser Stimme ist in unserem Zusammenhang die gewichtige Tatsache, dass es J.S. Bach zur Revision wichtig war, den vom Schreiber J.A. Kuhnau im Titelumschlag notierten Instrumentennamen „Tromba“ eigenhändig durchzustreichen, während er in der von ihm selbst geschriebenen Stimme den Namen „Corno“ eintrug.
Der Vorgang zeigt eindeutig, dass für Bach die Wahl des Instrumentes kein Zufall war – vielmehr legte er zumindest zu Lebzeiten von Gottfried Reiche ausdrücklichen Wert auf die klanglichen Unterschiede zwischen Tromba, Corno, Cornetto und Trombona usw. Siehe auch Stimnblätter mit zwei darauf notierten unterschiedlichen Blasinstrumenten, die nacheinander (von einem Musiker: Gottfried Reiche) gespielt wurden wie BWV 68: „Corne.“ (Horn) – „Cornetto“ (21.5.1725), BWV 3: „Trombona„ – „Corno„ (14.1.1725) oder BWV 128: „Corno„ – „Tromba„ (10.5.1725).
BWV 62 – „NUN KOMM DER HEIDEN HEILAND“

Auch diese Stimme gehört in den Tirarsi-Breich.
BWV 124

Sie erfüllt alle Tirarsi-Kriterien. Auffällig sind die vielen Kreuz-Vorzeichen der klingend notierten Stimme.
Eine nicht datierbare Wiederaufführung führte zur Umbesetzung bzw. dem zusätzlichen anonymen Eintrag „Tromba da tirarsi“. Er stammt vermutlich aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. War zu dieser Zeit die Erinnerung an die Tirarsi-Kunst noch nicht gänzlich erloschen?
BWV 3 – GEMEINSAME STIMME FÜR „TROMBONA“ UND „CORNO“

Wir stellen zunächst fest: der Spieler dieser Stimme war in der Lage in einer Kantate unterschiedliche Instrumente zu spielen. Die unterschiedichen Schlüssel für beide Instrumente sind zudem ein deutlicher Beweis für Bachs bewußte Unterscheidung zwischen „Corno“ und „Trombona“: wenn er „Corno“ notierte, meinte er definitiv nicht die Posaune. Siehe auch die „Corno“-Stimme in BWV 116 vom 26.11.1725, in der zwischen „Corne.“ (Horn) und „Cornetto“ differenziert wird was ein Beweis dafür ist, dass „Corne.“ eindeutig keine Abkürzung für „Cornetto“ ist.
Ein weiteres Beispiel dafür ist die Stimme für „Corno“ mit naturtonfremden Tönen in BWV 89 vom 8.10.1723, die für eine Wiederaufführung nach Gottfried Reiches Tod in den unteren Zeilen der Stimme für „Trombona“ neu notiert wurde.
BWV 125

Der Punkt hinter „Corno.“ war Anlaß für Vermutungen seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, es handele sich bei dieser und ähnlichen Stimmen (z.B. BWV 60, 95 oder 99) um eine Cornetto-Stimme. (Reinar Emans, „Zum Problem der Besetzungsangabe ´Corno da Tirarsi`bei Bach“. Konferenzberichte Leipzig (1985). S. 343 – 349.
Diese These ist wenig überzeugend. Üblicherweise tritt ein „Cornetto“ bei Bach (fast) immer zusammen mit drei Posaunen auf, was hier – wie vielen anderen Fällen – nicht zutrifft. Die Bezeichnung „Cornetto“ wurde immer ohne Abkürzungen ausgeschrieben, während es kein anderes Instrument gibt, welches mit derartig vielen unterschiedlichen Namens-Varianten in den Aufführungsmaterialen vorkommt wie das Horn. Gestützt wird diese Argumentation unter anderem auch durch die „Corno.“-Stimme in BWV 3 vom 14.1.1725. Selbst in absolut eindeutigen Hornpartien (wie BWV 1: „2Corn.“, BWV 40: „Corno 1 “ und „Corno.2“, BWV 52: „Corne.I“ oder BWV 65: „2 Cor.“) oder 112 taucht ein Punkt (oder ein Doppelpunkt – BWV 213) hinter „Corne“ auf.
Einen überzeugenden Beweis dafür, dass „Cornetto“ bei Bach immer ausgeschrieben wurde, liefert Bachs autographes Stimmblatt von BWV 68 vom 21.5.1725 für „Corne.“ (Horn) im Eingangschoral (in welchem das mutmaßliche Tirarsi-Instrument die üblichen Tirarsi-Kriterien erfüllt) – und „Cornetto“ (zusammen mit drei Posaunen).
BWV 126

Diese Tromba-Stimme steht in einer Folge der Tromba-Stimmen in D der Kantaten BWV 103, 110 (Nr. 6), 128 (Nr. 3) – und ev. BWV 127 – , die in den ersten Monaten des Jahres 1725 entstanden und jeweils in den Chorälen naturtonfremde Töne enthalten, wodurch der Sopran verdoppelt wird.
Bach hat besonders in der obligaten Parie des Chores Nr.1 von BWV 126 die Möglichkeiten der Naturtonreihe maximal ausgenutzt. Typischerweise läßt Bach auch hier die Solo-Trompete mit einer Dreiklangsfanfare starten. In Partien dieser Art nutzen die Komponisten gewöhnlich in den Horn- und Trompetenstimmen die Naturtonfolgen 3 – 4 – 5, oder 4 – 5 – 6 oder 5 – 6 – 8; selten die Folge 11 – 13 – 16 als Durdreiklang für die typischen Jagd- und Militärmotive.
Diesmal beginnt er allerdings in Moll über die Naturtonfolge 6 ,7 und 9 – was einige Komponisten vor ihm, z.B. Biber, bereits für einige ihrer Kompositionen genutzt haben.
Im Takt 36 nutzt Bach zusätzlich die Naturtöne 7, 9 und 11, den zweiten möglichen Molldreiklang der Naturtonskale, um das Motiv zu repitieren; im Takt 23 moduliert er über die Naturtöne 9 – 11 – 12 und 16 und im Takt 21/22 nutzt er in Durchgangsnoten zusätzlich den naturtonfremden Ton a1 zwischen den Naturtönen 7 und 6 – geht somit an die Grenzen des Machbaren bzw. leicht darüber hinaus.
LOCHLOS – BZW. OHNE SPIELHILFE ? DOPPELZUG NUR FÜR TIEFE LAGE?
In allen genanten obligaten Partien dieser Kantaten (BWV 110, 126, 127 und 128) des Jahre 1725 (und alle anderen Kantaten) könnten (nicht nur zu Lebzeiten von Gottfried Reiche) die allermeisten der obligaten Solo-Tromba-Partien durchaus mittels der historisch verbürgten Treibtechnik der Hoftrompeter ausgeführt worden sein – vielleicht auch BWB 126, Nr.1.
Aber verschwindend wenige der heutigen Naturtrompeter (sicher weniger als 1% ?) spielen in den Aufführungen und Aufnahmen diese obligaten Partien tatsächlich „lochlos“ in historischer Bläsermanier ohne korrigierende Zugvorrichtungen und kompromisslos ohne moderne Spielhilfen des 20. Jahrhunderts (Grifflöcher). Diese Grifflöcher korrigieren die unreinen Naturtöne der oberen Oktave mit der Kraft des Ansatzes und der Geschmeidigkeit der Zunge. Meine Lehrer an der Schola Cantorum Basiliensis – Jean-François Madeuf und Edward H. Tarr gehör(t)en (… Ed Tarr ist leider bereits 2020 verstorben …) zusammen mit Don L. Smithers zu den Vertretern der „Lochlos-Trompeter“ – ich schreibe diesen Begriff mit allergrößtem Respekt und absoluter Wertschätzung ! – ; zur jüngeren Generation gehört u.a. Henry Moderlak oder Julian Zimmermann.
Die allermeisten (ca. 99%) der heutigen Natur-Trompeter spielen diese und alle anderen Partien mit den unhistorischen Löchern – die Choräle, in denen die Tromba mit langen und vielen naturtonfremden Tönen den Sopran verdoppelt, nutzen einige wenige (1%) von ihnen historisch verbürgten Zugtrompete: mit einem ausziehbarem Einzelzug von ca. 55 cm Länge, bei dem das Instrument bewegt (gezogen) während zugleich das Mundrohr (= Zugteil) samt Mundstück an den Lippen fixiert wird.
Sie nutzen diese allgemein akzeptierte Form der Zugtrompete nicht zu Korrektur der unreinen Naturtöne in der hohen Lage: die Naturtöne Nr. 7, 11, 13 und 14 sowie der verlangten naturtonfremden Töne a1, h1, es2/dis2 (BWV 103), in den obligaten Partien, insbesondere in BWV 126, Nr.1.
Die allermeisten der Lochtrompeter nutzen – und dies ist ein hoch interessanter Aspekt – für diesen Tirarsi-Partien in den untereren Lagen einen „modernen“ Doppelzug, wie er von der Firma EGGER und anderen Firmen angeboten wird. Dieser Doppelzug folgt exakt den Thesen der Tirarsi-Theorie, die auf dieser Interentseite sowie in der Diplomarbeit von Oliver Picon (2010) und auch von Herbert Heyde bereits 1991 vertreten wurde. Löcher sind eine pragmatische Lösung des Problems der schiefen Naturtöne 7, 11, 13 und 14. Den Kollegen ist die Tatsache nicht bewußt, dass sie die Tirarsi-Thesen damit bestätigen – denn der Zug ist ausziebar für mindestens zwei Halbtöne. Sie nutzen den Tirarsi-Zug aber nicht in der hohen Lage, insbeondere in virtuosen Tromba-Partien wie BWV 5, 20, 24, 46, 70, 74, 75, 76, 77, 90 usw., weil sie die wesentlich bequemeren Löcher in der oberen Lage nutzen können.
Nochmals: Bachs eigenhändig notierten Einträge „da Tirarsi“, das originale Notenmaterial, die Umbesetzungen der Tirarsi-Partien nach Reiches Tod sowie unsere Erfahrungen von Aufführungen und Aufnahmen bilden eine in sich schlüssige Indizienkette. Viele überzeugende Argumente sprechen dafür, dass Gottfried Reiche in Leipzig die obligaten Solopartien für Trompete und Horn gespielt hatte und für beide Instrumente einen posaunenartigen Doppelzug nutze (was beim Horn aus anatomischen Gründen die einzige Möglichkeit war, um die Naturtonreihe um zwei Halbtöne zu vertiefen). Wenn Reiche dies so zumindest in den (tiefen) Chorälen und den Corno-Partien getan hat, so wäre es unlogisch, in den vielen weiteren obligaten Partien nach den Sommermonaten des Jahres 1723 die enormen Vorteile des Doppelzug NICHT zu nutzen, um die „schiefen“ Naturtöne Nr.7. 11. 13 und 14 vergleichsweise „bequem“ zu korrigieren bzw. die zusätzlichen naturtonfremden Töne zu spielen. Denn die zu ziehenden oder einzuziehenden Rohlängen sind in der höheren Lage nicht wesentlich länger als in der unteren Lage!
Diese Indizienkette wird besonders durch die für „Lochlos-Trompeter/Hornisten“ unspielbaren Partien BWV 24, 46, 77, 95, 105 und 109 gestützt.
Wie gesagt: aufrichtiger Respekt und Wertschätzung für alle Kolleginnen und Kollegen, die in Aufführungen und Aufnahmen mit Kopien (oder den Originalen relativ nahekommenden Kopien) historischer Blechblasinstrumente + unhistorischen Grifflöcher öffentlich spielen und anschließend ob ihrer beeindrucken Blaskultur vom Veranstalter wieder eingeladen werden.
BWV 127

Die originale „1 Tromba“-Stimme ist leider verschollen. Vermutlich war die Tromba, außer im Recitativ + Aria Nr.4, auch im Choral Nr. 5 besetzt, indentisch zur Kantate „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort „, BWV 126, eine Woche zuvor (oder „Ihr werdet weinen und heulen“ BWV 103 vom 22.4.1725), auch im Choral besetzt.

Die obligate Tromba-Partie (obere Zeile) der Aria Nr.4 „Wenn einstens die Posaunen schallen“ nutzt chrarakteristische Trompetenfanfaren auf Basis der Naturtonskale, konkret hier im Takt 2 das Signal „Pferde satteln“.
Urtümliche, unter Trompetern lang tradierte und immer wieder vorgetragene typische Signale dieser Art tauchen auch in der berühmten Bass+Trompete-Arie Nr. 8 „Großer Herr, o starker König“ der ersten Kantate des Weihnachtsoratoriums (BWV 248/1) sowie in der Kantate „Lobe den Herren, meine Seele“, BWV 143 auf.
Der Choral der Trombapartie in BWV 127ist dagegen von naturtonfremden Tönen geprägt. Leider ist die originale Stimme verschollen. Aus der Partitur ist nicht ersichtlich, wie der Choral besetzt wurde. Der Vergleich mit den vielen anderen vorgestellten Chorälen legt nahe, dass die Tromba (da Tirarsi) den Choral mitspielte.
BWV 103 – FEINE IRONIE ODER TIRARSI-KUNST (wie BWV 77) ?

Bachs Hauptkopist hat in keinem überlieferten Fall den ergänzenden Begriff „da Tirarsi“ den von ihm notierten Instrumentennamen hinzugefügt – obwohl viele Kantaten, wie in diesem Fall, zusätzliche Tirarsi-Töne enthalten. Auch hier erkennen wir erneut das bewährte Prinzip: die obligate Partie des Solo-Blasinstrumentes ist stimmend notiert + ein klingend notierter Schlußchoral – beide mit zusätzlichen Tönen, die zusammen mit den Korrekturtönen (7.,11., 13. und 14. Naturton) in einwandfreier intonatorischer Qualität und mit hoher Geschwindigkeit durch bequemen Gebrauch des Doppelzuges problemlos gespielt werden konnten.
Andererseits ist die Argumentation von Don L. Smithers („Bach-Jahrbuch“ 1990, S.49 f.) zur Kenntnis zu nehmen, der auf den Text des Tenors („betrübte Stimmen“ oder „ihr tut euch selber allzu weh“) verweist, der mit dem zusätzlichen Ton es2 (vertiefter 10.Naturton) laut Smithers Ausdruck von Bachs Ironie sei – ähnlich zu BWV 77 wird auf einen Zusammenhang von Text mit problematischen, naturtonfremden Tönen verwiesen; ein Vorgang, der demnach bei Bach ausschließlich mit Tromba (und keinem weiteren Instrument) zu verzeichnen wäre. Es stellt sich die Frage, warum er andere Instrumente nicht ebenso einsetzte? Wenige Wochen zuvor, am 4.2.1725, in BWV 126, forderte Bach jedenfalls in der obligaten Tromba-Partie mit gänzlich anderem Text die Vertiefung des 10.Naturtones obwohl hier also keine Ironiebezüge zum Text feststellbar sind.
Die Meinungen gehen also weit auseinander.
Nähert man sich jedoch mit Gelassenheit dem Thema, so ist zumindest eindeutig festzustellen, dass keine These 100% bewiesen werden kann. Wir tuen also gut daran, uns vor Bach und Reiche demutsvoll zu verneigen: so oder so scheint deren tatsächlich realisierte Version überzeugend gewesen zu sein.
BWV 68 – GEMEINSAME STIMME FÜR „CORNO“ UND „CORNETTO“

Die deutliche Unterscheidung zwischen beiden Instrumenten in dieser Stimme – aus der ein Spieler nacheinander die Partien spielte – spricht überzeugend gegen die These, dass manche mit „Corn.“, „Corno.“, „Corne.“ oder ähnlich (abgekürzten) Horn-Bezeichnungen ein „Cornetto“ meinten.
BWV 137

Sie entspricht den Tirarsi-Kriterien:
Die Kantate ist im Chorus Versus 1 und im Choral Versus 5 mit drei Trompeten besetzt und frei von naturtonfremden Tönen. Die Aria Nr.4 „Lobe den Herren“ einhält in der vorletzten und drittletzen Zeile naturtonfremde Töne in der 1. Trompete, die den Sopran verdoppeln. Tirarsi-Typisch existiert für die Wiederaufführung um 1746–1747 für Versus (Satz) 4 in autogr. Nachtrag: mit obligater Oboe statt Trompete (da Tirarsi). Diese Tatsache ist erneut ein Indiz dafür, dass mit Gottfried Reiches Tod 1734 kein Tirarsi-Spieler mehr verfügbar war, weshalb diese Partie umbesetzt wurde.

BWV 16

Diese Stimme enthält in den Ecksätzen lang klingende naturtonfremde Töne und ist eine der vielen Partien für Corno, die zur „Grauzone“ jener Corno-Paritien gehören, die ebenfalls den oben genannten Kriterien für Tirarsi-Instrumente entsprechen, aber von Bach nicht so bezeichnet wurden.
Die für die damalige Zeit „modische“ Intrumentenbezeichnung „Corno da Caccia“ ist (wie die „Corno du Chasse“-Stimme von BWV 109 oder die „Corno“-Stimme in BWV 136) ein eindeutiger Hinweis, dass derartigen Partien NICHT mit einen Cornetto besetzt wurden (siehe u.a. auch die Erläuterungen zu BWV 68 und 95).
Sehr interessant an dieser Stimme ist die obligate Partie der Aria Nr. 3 in BWV 16, „Laßt uns jauchzen“. Möglicherweise könnte diese Stimme für Tromba gedacht sein – sie weist starke Verwandschaft z.B. zu den Dreiklangsmotiven anderer Tromba-Partien (BWV 70) auf. Es könnte sein dass Bach hier vergaß einen Instrumentenwechsel in der Aria notieren zu lassen – oder diesen Vorgang „nur“ mündlich vermittelte.
Ein anderes Beispiel für Notationsdefizite ist die Kantate BWV 14 vom 30.1.1735, in der die Ecksätze mit „Corno“ besetzt sind und lediglich der Wechsel vom Choral zur Tromba (in der Arie) aus der Partitiur ersichtlich ist. Dieser Wechsel zur Tromba ist in der Stimme nicht vermerkt; allerdings der in der Stimme notierte Wechsel zurück zum Corno im Schlußsatz – ein Beweis dafür, dass Bach hier verpasste den Wechsel zu notieren oder dessen Notation nicht für notwendig erachtete.
War also die Aria Nr. 3 in BWV 16 für Tromba gedacht und hat Bach lediglich versäumt den Wechsel aufzuschreiben?
BWV 43

Der Eingangschor ist mit drei Trompeten besetzt. Tromba 1 hat in diesem Stück auch solistische Passagen und wird von der zweiten Trompete teilweise immitiert. Denkbar und hilfreich ist hier die Nutzung von zwei Tirarsi-Instrumenten – zumindest in der ersten Stimme.
Ein eindeutiger Beweis für das gleichzeitige (singuläre) Zusammenspiel dreier Tirarsi-Instrumente bietet der Schlußchoral: einzigartig im überlieferten Schaffen Bachs ist hier die Verwendung von naturtonfremden Tönen (typischerweise klingend notiert!) für drei Trompeten.
Die (spektakuläre) obligate Partie der Arie Nr.7 „Er ists, der ganz allein“ enthält keine naturtonfremden Töne, ist aber mit dem Tirarsi-Zug wesentlich bequemer auszuführen, anstatt die schiefen Naturtöne zu treiben: es spart Kraft, die in dieser Arie ob der außerordentlichen Schwierigkeit der Partie dringend gebraucht wird.
Ein weiteres (schwaches) Tirarsi-Indiz könnte die spätere Umbesetzung zur Violine sein, die möglicherweise nach Gottfried Reiches Tod erfolgte. Die Wiederaufführung ist allerdings nicht datierbar (autogr. Nachtrag, u. a. Obligatstimme Satz 7 für Vl I in Quelle D-B Mus.ms. Bach St 36).

BWV 19

In der Aria Nr.5 „Bleibt ihr Engel“ schwebt die solistische Tromba 1 (im 6/8-Takt ab Zeile 8) in langen Cantus-Firmus-Noten über dem musikalischen Geschehen. Die Stimme enthält lange auszuhaltende (schiefe) 11. und 13. Naturtöne, deren notwendige Korrektur möglicherweise auch für Gottfried Reiche mit der Treibtechnik zu anstrengend war (?). Die zusätzlichen naturtonfremden Halbtonschritte zum geforderten h1 und cis2 erschweren die perfekte intonatorische Ausführung der Partie, wenn sie ohne Zug gespielt werden.
Heutzutage „greifen“ 99% aller Naturtrompeter (kein Vorwurf: ich tue es, je nach Situation, auch!) zu unhistorischen Griffloch-Trompeten, um diese Töne zu korrigieren.
Ein Indiz, dass auch diese Partie vom Stadtpfeiffer Gottfried Reiche mit der Tromba da Tirarsi bequem ausgeführt wurde (und möglicherweise die gesamte 1. Stimme: auch im dreifach mit Trompeten besetzten Satz, wie BWV 41 und BWV 69a ?), ist der Vergleich mit der Abschrift dieser Stimme im Umfeld des Bach-Sohnes Carl Philipp Emanuel Bach, die um 1770 für eine Aufführung in Hamburg erstellt wurde: die obligate Tromba-Stimme der Nr. 6 mit ihren naturtonfremden Tönen wurde in dieser neuen Stimme nicht übernommen!



BWV 27

Für eine Wiederaufführung um 1741-1742 (lange nach Gottfried Reiches Tod) wurde die Corno-Stimme mit einem anderen Instrument neu besetzt. Überschrift der neuen Stimme: „Org obl.“ – ein weiteres Indiz, welches die Tirarsi-Argumentation unterstützt.
BWV 140 – DIE LETZTE TIRARSI-KANTATE

Es ist die letzte überlieferte Kantate mit Corno (bzw. einem Blechblasinstrument) zu Lebzeiten Gottfried Reiches, deren Solo-Stimme klingend notiert ist und den Sopran mit langen naturtonfremden Tönen verdoppelt. Sie gehört ebenfalls zur „Grauzohne“ der Partien, die nicht mit dem Zusatz „da Tirarsi“ von Bach versehen wurden, aber trotzdem mutmaßlich mit einem „Corno da Tirarsi“ gespielt wurden.
BWV 14 – NACH REICHES TOD KOMPONIERT: OHNE TIRARSI-TÖNE

Diese späte Bach-Kantate unterstreicht die These, dass offenbar nur zu Lebzeiten von Gottfried Reiche für Tirarsi-Instrumente komponiert wurde: Gottfried Reiche ist im Januar 1735 bereits einige Monate tot und BWV 14 ist KEINE Tirarsi-Kantate!
Erkennbar ist dies an fehlenden naturtonfremden Tönen. Die Stimmen der obligaten Arie und des Chorals sind stimmend = transponierend notiert.
WEITERE QUELLEN UND LITERATUR
„THE CORNO DA TIRARSI“ – Diplomarbeit, Schola Cantorum Basiliensis, Olivier Picon, Basel, 2010
ZITATE (Auswahl)
Johann Kuhnau (1660 – 1722), Bachs Vorgänger in Leipzig: „… mit einer Trompete wolte imitieret haben /… / … und wo sich nichtnah jetziger Invention eingerichtet ist / daß sie sich nach Art der Trombon ziehen lässt…“ (siehe Johann Kuhnau: „Der musicalische Quack-Salber„, Dresden, 1700, S.82 f.)
„… dass man die Trompeten auf Posaunen-Art, wie heutiges Tages die Thürmer und Stadt-Pfeiffer fast alle haben … so dass ein dergleichen Instrumemt einer kleinen Alt-Posaune sehr nahe kommt…„
(Autographensammlung Grasik, ehemalige kgl. Bibliothek Berlin, Mappe XXX)
LITERATUR (unvollständig)
Die hohen Anforderungen, die Bachs Werke aus seinem ersten Leipziger Jahrzehnt an die Blasinstrumente, insbesondere an die erste Posaune, stellen, erklären sich daraus, dass Gottfried Reiche bis 1734 an der Spitze der Leipziger Stadtmusikanten stand. Reiche muss über außergewöhnliche technische Fähigkeiten verfügen, nicht nur in der Beherrschung des hohen Clarinregisters, sondern auch in der Fähigkeit, Noten außerhalb der Naturtonleiter zu spielen. (Übertragung des englischen Resümees am Ende des Bandes)
Der Artikel wendet sich ausführlich und entschieden gegen einige von Thomas G. MacCracken 1984 formulierte Thesen zu Bachs „da tirarsi“-Anweisungen. Im Kern ist es dem Autor darum zu tun, die Vieldeutigkeit der historischen Befunde darzustellen, wo MacCracken seiner Ansicht nach zugunsten eines (Vor-)Urteils unredlicherweise von sorgfältiger Betrachtung des Vorgefundenen weg zur voreingenommenen Selektion der Quellen und Methoden tendiere. Auf der fachlichen Ebene führt Smithers zahlreiche Belege dafür an, dass das Vorkommen der Bezeichnung „da tirarsi“ in Bach’schen Manuskripten aus quellenkundlichen, spieltechnischen und einigen weiteren Motiven heraus weniger eindeutig zu interpretieren sei als McCracken dies tue. Dazu bezieht er sich mehrfach auch auf seine eigene Arbeit über den Leipziger Trompeter Gottfried Reiche.
Bermerkenswert: Don L. Smithers vertritt 1990 im Bach-Jahrbuch (Seite 46/47) die Doppelzug-These, obwohl er als derjenige Spieler seiner Generation gilt, dem es erstmals öffentlich gelang ohne Spielhilfen, „nur“ durch Kontrolle des Ansatzes und der Atemtechnik, einige von Bach geforderten naturtonfremde Halb-Töne zu spielen.
„Die Blechblasinstrumente in J.S. Bachs Werken“ Giesela Cziba und Jozsef Cziba, Merseburger, 1994
„THE CORNO DA TIRARSI“ – Olivier Picon, Diplomarbeit, Schola Cantorum Basiliensis, 2010
NOTEN (die besten aktuellen Ausgaben)
„Bach for Brass“, Bände 1-7, Dr. Edward H. Tarr und Dr. Uwe Wolf, Carus-Verlag, 1999 – 2007

